„Vor Eilzug geworfen“ – Das Schicksal der Irene S.

Kann man in Deutschland offen queer leben? Man kann! Allerdings ist die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in Deutschland keine Selbstverständlichkeit. Es gibt in der Gesellschaft nach wie vor Ausgrenzung, Diskriminierungen, Hass und Gewalt. Was macht das mit den Betroffenen? Die Folgen sind dramatisch. LSBTTIQ* Menschen haben eine dreimal höhere Wahrscheinlichkeit, an Depressionen zu erkranken. Und laut internationalen Studien sind die Suizidraten bei queeren Jugendlichen signifikant höher als bei gleichaltrigen Heterosexuellen. Die Statistiken sprechen eine eindeutige Sprache. Sie haben jedoch keine Aussagekraft über das Vergangene. Über die unzähligen Schicksale, wie das von Irene S.

Bahnlinie Stuttgart – Schwäbisch Gmünd, Streckenkilometer 45, kurz nach 22:00 Uhr. Die Nacht ist klar, aber kalt. Die Temperaturen liegen knapp unter 0 Grad. Hier, an der Ecke Lorcher Straße Freimühle, am Eingang zum Rotenbachtal macht es keine Mühe, auf den Bahnkörper zu klettern. Die Stelle ist abgelegen und gleichzeitig mit dem Auto problemlos zu erreichen. Vom Parkplatz zu den Schienen sind es nur ein paar Meter. Gleichzeitig bietet die Brückenkonstruktion der Kreisstraße 3268 nach Großdeinbach und der abknickende Gleisverlauf eine Art Sichtschutz. Die Lokführer der heranbrausenden Züge können die Stelle erst im letzten Moment einsehen, vor allem bei Dunkelheit. Wenn man so will, eine perfekte Stelle für einen Selbstmord. Und genau das hat Peter S. vor. Peter als Peter zu bezeichnen, ist falsch. Es ist der Vorname, den ihm seine Eltern gaben. Ein Name, der ihn einem bestimmten Geschlecht zuordnete, das nicht seiner Identität entsprach. Peter war trans. Er fühlte sich als Frau. Er fühlte sich als Irene.

Irene starb am 10. Dezember 1976. Der Schnellzug Stuttgart – Bayreuth hatte sie erfasst. Ihr Ableben fand seinen Niederschlag in einem kurzen Zeitungsartikel.

Ausschnitt aus der Rems-Zeitung vom 14.12.1976 – fälschlicherweise wird hier ein anderes Alter angegeben. (Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd, Best. C03.37)

Das Motiv für ihren Tod sieht der Bericht in »seelischen Depressionen«. Die Kodierung entspricht dem Duktus seiner Zeit, in der Transgendermenschen als psychisch krank galten und das Thema gesellschaftlich jahrzehntelang tabuisiert und stigmatisiert wurde.

Irene wurde 29 Jahre. Was wir über sie wissen, ist nicht viel. Eine Handvoll an Informationen. Geburtsdatum, Sterbedatum, die Namen ihrer Eltern in Straßdorf und ihre Wohnadresse in Rechberg. Ihr Grab ist längst aufgelöst. Nur wenige erinnern sich noch an sie. Ein Leben lässt sich so nicht rekonstruieren. Wir wissen nicht, was sie bewegte, was sie fühlte und was sie dachte. Aber darum geht es an dieser Stelle nicht. Uns ist wichtig aufzuzeigen, dass zu allen Zeiten Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität und geschlechtlichen Orientierung zum Äußersten getrieben wurden. Und selbst heute wird die Liste der Leute länger, die ihre letzte Zuflucht im Suizid sehen, die den Kampf gegen Ausgrenzung und Diskriminierung verlieren. An sie, wie auch an Irene, wollen wir erinnern.

Literaturverzeichnis
> Trans* Gesundheit und Diskriminierung, in: Regenbogenportal, https://www.regenbogenportal.de/infoartikel/trans-gesundheit-und-diskriminierung, (Abruf: 27.04.2023).
> Plötz, Kerstin/Reusch, Nina: Reusch: Repressionen gegen Transgender und Transsexuelle, in: LSBTTIQ Baden Württemberg, https://www.lsbttiq-bw.de/historischer-kontext/repressionen/repressionen-gehen-transgender-und-transsexuelle/, (Abruf: 27.04.2023).

Archivalische Quellen> 
Rems-Zeitung vom 14.12.1976 (Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd, C03.37)
> Sterbebucheintrag vom 14.12.1976 (Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd, A13.10.05)

Verzeichnis Gespräche> 
Gespräch mit S.P., persönliche Kommunikation, Straßdorf, 14.02.2023.

Beratung: 
> Anlaufstellen für Beratung zu unterschiedlichen psychologischen und sozialen Themen:
https://www.vlsp.de/beratung-therapie/lsbttiq-beratung-baden-wuerttemberg

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