»Kreis der Freunde« – Die Lebenswirklichkeit homosexueller Männer in den 1920er Jahren

»Suchen Sie Anschluss an Gleichgesinnte der Art Platos?« Die Einladungskarte zum »Kreis der Freunde« ist Teil einer ausführlichen Gerichtsakte, die Einblick in die Lebenswelt homosexueller Männer jenseits der urbanen Zentren in den 1920er Jahren ermöglicht. Netzwerk- und Emanzipationsstrategien kommen so zum Vorschein, aber auch Verfolgungsdruck und staatliche Repression.

Schwäbisch Gmünd, 6. Februar 1925. Auf dem württembergischen Polizeiamt sitzt der Lithograf August Jäger beim Verhör. Der schmächtige 24-jährige wird des Verstoßes gegen den § 175 beschuldigt. Zwei Tage zuvor wurden drei Männer in Heidenheim »auf frischer Tat« im Bett erwischt. Ihnen wird »Unzucht mit Personen männlichen Geschlechts« vorgeworfen. Die Beschreibungen in den Akten lassen nichts unerwähnt: wer mit wem und vor allem in welcher Position. Die kleinen Details sind wichtig. Nur wenn »beischlafähnliche Handlungen« nachweisbar sind, droht den Inhaftierten eine Verurteilung. Als einer der Haupttäter gilt Leonard Junginger, 29-jähriger Kaufmann der Maschinenfabrik Voith. Bei ihm wird in den weiteren Ermittlungen Zeitschriften, mit homoerotischen Bildern, sowie persönliche Schriftstücke gefunden. Darunter ein Brief:

»Dieser Brief ist von August Jäger, Lithograph in Schwäbisch Gmünd, Vordere Schmiedgasse. Ich habe zu ihm keine solche Beziehungen. Soviel ich weiß, ist in Gmünd ein Kreis der Homosexuellen, ich habe keine Beziehungen zu ihnen, solche auch nicht zu Jäger.«
Leonhard Junginger

Die Beamten schenken der Aussage wenig Beachtung. Vielmehr glauben sie, dass es »zwischen dem Junginger und dem Jäger ebenso zu unerlaubtem geschlechtlichem Verkehr« kam. Umgehend wird ersucht, »in den Kreisen des Jägers gehörige Umschau zu halten« und insbesondere bei notwendigen Durchsuchungen ein Hauptaugenmerk auf unsittliche Bildwerke und Korrespondenzen zu legen. Die Gmünder Polizei lässt keine Zeit verstreichen. »Auftragsgemäß« wird August Jäger wegen Verdunkelungsgefahr um 6 Uhr abends im Geschäft seines Vaters festgenommen, auf die Polizeiwache gebracht und umgehend vernommen. Das Wort führt der 46-jährige Kriminalkommissar Johannes Krieg. Krieg geht sehr akribisch vor und lässt sich alles wiederholt erklären. Auch Tage später drängen seine Fragen auf den Beschuldigten ein, der insgesamt 14 Tage in Untersuchungshaft bleibt. Jäger verstrickt sich in Widersprüche, wankt, fällt aber nicht um:

»Ich bestreite entschieden, meinen Geschlechtstrieb je einmal in päderastischer Weise in den After usw. betätigt zu haben«
August Jäger

Seine Verteidigungsstrategie, die auch die anderen Angeklagten einsetzen, geht letztlich auf. Alle werden am 19. März 1925 vor dem Schöffengericht Ellwangen im »Strafverfahren wegen widernatürlicher Unzucht« freigesprochen. In der Begründung des Urteils führte das Gericht dazu aus, dass gegenseitige Onanie nicht unter den § 175 fällt. Diesen Spielraum lässt die Gesetzgebung, wie sie bis zum 1. September 1935 Bestand hatte, zu. Erst die Nationalsozialisten erweitern den Tatbestand von beischlafähnlichen auf alle »unzüchtigen« Handlungen. Sämtliche Handlungen, die nun in »wollüstiger Absicht« stattfinden, darunter sind auch Berührungen oder Küsse zu verstehen, werden nun nach § 175a geahndet, der für »erschwerte Fälle« Zuchthaus zwischen einem und zehn Jahren vorsieht.

Dem Verfolgungsdruck haben die Angeklagten standgehalten. Sie verließen als freie Männer den Gerichtssaal. Allerdings geht aus den Akten nicht hervor, ob ihr Umfeld nicht trotzdem den Stab über ihnen brach. Konnten Sie an ihre Arbeitsstellen zurückkehren? Wurden sie entlassen? Mussten sie mit gesellschaftlicher Ächtung leben? Gesichert ist, dass der jüngste Angeklagte, Oscar Ragg, auch später wegen Vergehen nach § 175 mit dem Gesetz in Konflikt kam. Im Nationalsozialismus bedeutete dies Inhaftierung im Konzentrationslager Dachau. Er starb 1943 im Alter von 35 Jahren im KZ Stutthof bei Danzig.

Das ist eine Seite der Medaille. Die andere: Die Unterlagen der Strafverfolgung, die bis heute im Staatsarchiv Ludwigsburg aufbewahrt werden, spiegeln nicht nur den staatlichen Repressionsdruck, sondern vermitteln auch die Perspektive der Betroffenen, die keine Opferperspektive ist. Sie vermitteln, dass es auch abseits der Ballungszentren homosexuelle Emanzipationsstrategien gab, die Einsamkeit des ländlichen Raums zu überwinden. In Schwäbisch Gmünd war es der Zusammenschluss »Kreis der Freunde«, der sich regelmäßig freitagabends im Gasthof Stern in der Vorderen Schmiedgasse und sonntagnachmittags im Wachthaus bei Lorch zusammenfand. Einladungskarten dafür verteilten die Mitglieder an Freunde und andere Männer, bei denen eine homosexuelle Orientierung vermutet wurde.

Dieser Text wurde in einer erweiterten Fassung mit ergänzenden und vertiefenden Inhalten auf Ostalbum veröffentlicht, um seine langfristige Zitier­fähigkeit mit ergänzenden Literatur- und Quellen­angaben auf Ostalbum zu gewährleisten.

Gasthof Stern, 1919, Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd, Best. E05, Nr. 297.

Literaturverzeichnis
> Munier, Julia Noah (2021): Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert. Stuttgart, S. 132.
> Munier, Julia Noah (2018): Lebenswelten und Verfolgungsschicksale Homosexueller in Ulm vor und nach 1933. Zunehmende Kriminalisierung und Verfolgung. In: Die Verfolgung Homosexueller in der Region, Mitteilungen Heft 68, Hg . vom Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg e.V. , Ulm a.d. Donau . H. 68, S. 3-4.; https://dzok-ulm.de/roheetop/2021/02/Mitt68-2.pdf, (Abruf: 27.04.2024)

Archivalische Quellen
> Akten des Amtsgericht Ellwangen über das Verfahren gegen den „Kreis der Freunde“ (Staatsarchiv Ludwigsburg, Best. F 263 I St 50)
> Familienregister zu den Mitgliedern des Kreises (Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd, A13.10.07)
> Meldekarten zu Mitgliedern des Kreises (Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd, A12a.01 und A12a.02)

Hinweis
> Erweiterten Fassung mit ergänzenden und vertiefenden Inhalten auf Ostalbum:
> Kolb, Arnd (2023): „Kreis der Freunde“ – Ein heimliches Netzwerk schwuler Männer in Ostwürttemberg in den 1920er Jahren, in: Ostalbum, https://ostalbum.hypotheses.org/3849, (Abruf: 27.04.2024)

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