Anton Lang – Ein Mensch und seine „unglückliche Veranlagung“

Anton Lang war vermutlich das, was man eine „schillernde Persönlichkeit“ nennt: eine außergewöhnliche Erscheinung. Solche Menschen besitzen oft eine Vielfalt an Talenten, Interessen und Charaktereigenschaften, die sie außergewöhnlich und bemerkenswert machen. Ihr Verhalten ist dabei nicht selten komplex und kann sowohl positive als auch negative Eigenschaften, sogenannte Schattenseiten, aufweisen. Lang hatte solche Schattenseiten, die eine Einordnung seiner Person äußerst schwierig machen. Ein Fall, der viele Fragen aufwirft und vieles unbeantwortet lässt.

Die Orte, die Anton Langs Wegmarken in Schwäbisch Gmünd baulich beschreiben könnten, existieren nicht mehr: Die Wirtschaft „Zum Waldhorn“ am Kalten Markt, der architektonisch beeindruckende „Sonnenhof“ auf dem Hardt – beide wurden abgebrochen. Und selbst am Standort des traditionsreichen Restaurants „Josefle“ erhebt sich nur noch ein Neubau, der zwar die Statue des heiligen Josef des alten Lokals an seiner Fassade trägt, aber nicht mehr seine Seele.

Ein paar Straßen weiter, im Schwäbisch Gmünder Stadtarchiv, finden sich eine Handvoll Unterlagen über ihn. Das Meiste sind behördliche Überlieferungen. Meldekarten etwa, die uns die Eckpunkte eines Lebens widerspiegeln: z. B. biografische Angaben, Wohnadressen, Einzug und Auszug gegenübergestellt. Dann Akten verwaltungstechnischer Natur und zu guter Letzt ein Tagebuch. Nicht irgendein Tagebuch, nicht Langs Tagebuch, sondern das Tagebuch von Albert Deibele, seines Zeichens Stadtarchivar und geistiger Übervater der Gmünder Stadtgeschichte. Deibele schrieb über Anton Lang in seiner „Kriegschronik“ [1] im Januar 1941 eine längere Passage. Es sind Zeilen, die einer Theaterkritik gleichen. Eine sehr pointierte Meinungsäußerung zu einer Inszenierung, in der die Figur des Hauptdarstellers denkbar schlecht wegkommt. Deibele lässt kaum ein gutes Haar an Lang. Er beschreibt seine Fehler und Schwächen mit der Schärfe eines Kritikers, der ein misslungenes Stück in der Luft zerreißt. Doch trotz seiner Abneigung für den Charakter dieser Person kam er nicht umhin, an der einen oder anderen Stelle eine gewisse Bewunderung für Langs Talent und Schaffenskraft zu äußern. Die Frage, die sich nun stellt: Wie sind seine Aussagen zu werten? Zumindest liefert er eine Perspektive, die es zu überprüfen und zu ergänzen gilt. Möglich ist dies durch Funde in den Beständen der Bundes- und Landesarchive in Berlin und Ludwigsburg. Sie behandeln im Zeitraum 1942/43 zwei Strafverfahren gegen Lang: eins wegen seiner wirtschaftlichen Vergehen[2], eins wegen „Sittlichkeitsverbrechen“ im Sinne des § 175.[3]

Doch eins vorneweg: Lang hatte auch von diesen beiden Verfahren abgesehen ein stattliches Maß an Straftaten vorzuweisen, die auch heute noch strafbar wären: Die Bandbreite reicht von verschiedenen Wirtschaftsdelikten, bis hin zu Verstößen gegen § 174 (Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen) und § 176 (Sexueller Missbrauch von Kindern). Die rechtliche und moralische Fragwürdigkeit seines Handelns im Falle der Verfahren die § 174 und § 176 betreffen, steht außer Frage. Allerdings erlaubt die Quellenlage in keinem von beiden Fällen eine eingehendere Untersuchung. Bevor wir deshalb Gefahr laufen, Stereotypen zu verbreiten, wollen wir stattdessen Fragen aufwerfen, selbst wenn es darauf keine Antworten geben kann. Den „Fall Lang“ aufgrund der genannten Verfahren nicht zu behandeln, würde den Anspruch unseres Unterfangens, queere Lebenswelten differenziert und umfassend zu behandeln, nicht gerecht. Lebensentwürfe sind meistens nicht linear und „Opfer“ können auch „Täter“ sein – zwischen Weiß und Schwarz existieren viele Formen von Grau. Dieser Tatsache müssen wir uns stellen, auch wenn es sich um ein hochemotionales Thema handelt.

Anton Lang – „Unter der Lupe“
Die erwähnte Textstelle in Albert Deibeles Kriegschronik ist drei Seiten lang. Anlass ist der Tod von Langs Ehefrau Martina, am 09.01.1941. Eine von Deibele in den Folgetagen gemachte Beobachtung im Heilig-Kreuz-Münster führte zum folgenden Eintrag.

„Heute wird die Frau von Anton Lang begraben. Ich habe Lang vor zwei Tagen beim Mesner getroffen und gesehen, wie er geweint und gejammert hat. Wenn man die Geschichte dieses Mannes kennt, so hat man allerdings kein so großes Mitleid mit ihm. Man kann allerdings auch sagen, er habe eine krankhafte Veranlagung.“
Albert Deibele, Kriegschronik[4]

Deibeles Aussage hat eine Vorgeschichte. Sie beginnt am 16.12.1878, als Anton Lang in Neufra, Kreis Riedlingen, geboren wurde. Lang verließ nach Abschluss der katholischen Volkshochschule den elterlichen Bauernhof, um in Freiburg im Breisgau eine Kochlehre zu absolvieren. Dort erlebte er einen sexuellen Missbrauch. Sein Küchenchef verführte den noch jungen Auszubildenden „zu solchen Handlungen.“[5] Es gibt Hinweise darauf, dass Personen, die als Kinder missbraucht wurden, ein erhöhtes Risiko haben, selbst missbräuchliches Verhalten zu entwickeln. Die Wissenschaft spricht in diesem Falle von einem „Zyklus des Missbrauchs“.[6] Lang selbst gibt an, dass dieser Übergriff sein späteres Leben beeinflusst hätte. Wahrheit oder Schutzbehauptung?

Als sein Bruder stirbt, kam Lang im Februar 1903 nach Schwäbisch Gmünd. Dieser hatte mit seiner Ehefrau die Gaststätte „Zum Waldhorn“ auf dem Kalten Markt betrieben. Anton Lang übernahm seine Rolle, zuerst in der Küche und dann auch als Ehepartner der Witwe. Martina und Anton heirateten 1908. Auf welcher Basis die Allianz geschlossen wurde, muss offenbleiben, ebenso ob es eine Beziehung auf Augenhöhe war. Was dagegen sicher ist: Die Ehe hielt 33 Jahre, bis zum Tod von Martina Lang 1941. In diesem Zeitraum blieb sie trotz aller Verfehlungen ihres Mannes stets an seiner Seite.[7]

Deibele beschreibt Lang als „geborenen Wirt“, der es verstand, auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten für seine Gäste Lebensmittel zu beschaffen.[8] Die bei Deibele angedeuteten „dunklen Kanäle“ als Bezugsquelle werden aufgrund des Aktenfunds im Berliner Bundesarchiv mehr als plausibel. Das 1943 in die Wege geleitete Verfahren wegen Wirtschaftskriminalität gibt einen Einblick in die Dimension von Anton Langs Schattenwirtschaft. [9] Lang verstand sich auf das Organisieren von Nahrungsmitteln. Dieses Talent hatte er sicher schon in früheren Zeiten entwickelt. Bereits während des Ersten Weltkriegs war die Versorgungslage in Deutschland äußerst angespannt, und das heimliche Beschaffen von Lebensmitteln außerhalb der offiziellen Wege ein weit verbreitetes Phänomen. Nicht zuletzt deshalb florierte die Wirtschaft „Zum Waldhorn“ bestens. Die „Geschäfte“ liefen so gut, dass Lang kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs, als Hungerkrawalle in Deutschland an der Tagesordnung waren, das renommierte „Josefle“ übernehmen konnte. Am 01.10.1918, einen Monat vor Ende des Krieges und Ausrufung der Weimarer Republik, zog der neue Besitzer vom Kalten Markt zum Marktplatz um.[10] Im Gegensatz zu vielen stand Anton Lang am Ende des Weltkrieges besser da als am Anfang. Allein diese Tatsache, in schwierigen Zeiten relativ unbeschadet oder sogar mit einem „Kriegsgewinn“ durchgekommen zu sein, mag die spätere Beurteilung von Lang in Deibeles Chronik beeinflusst haben.

Gasthof Josefle in den 1920er Jahren (Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd, Bestand E 5, Nr. 6, Bild 86)

Die 1920er Jahre der Weimarer Republik waren eine Zeit großer politischer und wirtschaftlicher Instabilität, ein ständiges Auf und Ab, das die Bevölkerung vor erhebliche Herausforderungen stellte. Auch für Lang sollte es ein turbulentes Jahrzehnt werden. Bereits im Sommer 1920 muss er sich vor der Ellwanger Strafkammer wegen Verstoßes gegen § 176 verantworten.[11] § 176 des Strafgesetzbuches behandelt Sexualdelikte gegen Minderjährige. Die genauen Umstände von Langs Verstoß sind nicht näher bekannt. War es Pädophilie? War es Lust an der Machtausübung? War die Auswahl seines Sexualpartners dem gesellschaftlichen und polizeilichen Verfolgungsdruck geschuldet, da mit jedem Sexualkontakt auch ein moralisches und strafrechtliches Risiko eingegangen wurde? Hatte er das Gefühl, bei dieser Altersgruppe die Situation kontrollieren zu können? Das Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches legte für Verstöße gegen den Paragraphen eine Mindeststrafe von sechs Monaten und eine Höchststrafe von fünf Jahren fest.[12] Lang erhielt die Mindeststrafe. [13] Konnte er mildernde Umstände vorweisen? Die Aktenlage zu diesem Verfahren ist mehr als dürftig, um hier eindeutige Aussagen zu treffen. Für Außenstehende war dagegen das Urteil gefällt: Deibele schreibt, Lang hätte wegen des Vergehens einige Jahre im Gefängnis verbracht, was aufgrund der vorgefundenen Dokumente nicht zutreffend ist. [14] Zudem unterstellt er dem Wirt des Josefle, er sei „Sodomit“ gewesen, was sich ebenfalls nicht belegen lässt. Allerdings ist anzunehmen, dass Langs Vergehen Stadtgespräch waren. Seine Aussage, die Gmünder Einwohnerschaft hätte daraufhin das Josefle gemieden, klingt plausibel.[15] Anton Lang ließ sich von der öffentlichen Meinung in seinem Tatendrang nicht beirren. Er richtete sein geschäftliches Konzept auf die Beherbergung auswärtiger Gäste aus. Nach Deibele gleichen diese die Umsatzeinbußen mehr als aus. Kleinere Verfehlungen, die sich Lang 1923 und 1927 wegen Verstößen gegen Weinsteuer und Bierverordnungen leistete, fielen dagegen kaum ins Gewicht.[16] Sie wurden mit Geldstrafen geahndet. Ende der 1920er Jahre gehörte Langs ganze Aufmerksamkeit seinem neuen Projekt „Kurhaus Sonnenhof“.[17] Auf der Höhenlage des Gmünder Hardt, sollte ein Haus mit Stil und Fernblick entstehen, das in der Stauferstadt seinesgleichen suchte.

„Lang baute nun den Sonnenhof. Die Lage ist einzigartig schön und versprach, einen Anziehungspunkt für die Fremden zu geben. Das Unternehmen war ursprünglich klein gedacht, wurde dann aber zu einem großen Unternehmen, das die Kapitalien Langs verzehrte. Es wäre ihm aber sicherlich gelungen, sich über Wasser zu halten, wenn nicht seine unglückliche Veranlagung ihm einen Strich unter sein Leben gemacht hätte.“
Albert Deibele, Kriegschronik[18]

Höhencafé "Sonnenhof" um 1930. Möglicherweise ist Anton Lang auf dem Foto ganz rechts abgebildet. (Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd, Bestand E 6, Bild 515).

Deibele spielt auf das nächste Sexualstrafverfahren Langs an. Nachdem der Sonnenhof im Juni 1930 eröffnet wurde, musste sich Lang sechs Monate später vor dem Amtsgericht Gmünd wegen Delikte gegen § 174 in Tateinheit mit § 175 verantworten. Was war passiert? Aus den Unterlagen von 1942 wird ersichtlich, dass er zwölf Jahre zuvor „wegen mehrfacher Unzucht mit einem ihm unterstellten Kellnerlehrling und einem anderen jungen Mann“ zu sieben Monaten und 15 Tagen Haft verurteilt wurde.[19] Das Gerichtsurteil geht an die Substanz, vor allem wirtschaftlich. Der zuvor, trotz aller juristischen Verfehlungen, erfolgreiche Geschäftsmann verlor das „Josefle“.[20] Von nun an konzentrierte er sich auf den Sonnenhof, doch das Höhencafé, das laut Deibele zuerst glänzend lief, wurde mittelfristig zu einem Verlustgeschäft. Auch andere wirtschaftliche Unternehmungen, wie eine Geflügelhandlung im Mühlbergle, wurden ein Misserfolg. Versuche, erneut mit Tricksereien die Bilanz auszugleichen, entdeckte die Polizei. Wegen wiederholter Höchstpreisüberschreitung wurde er 1939 zu 100 RM Geldstrafe und drei Wochen Gefängnis verurteilt.[21] Das Verfahren sowie weitere Verstöße beim Betrieb des Sonnenhofs führen zur Schließung des Cafés.[22] Auch von diesem Schlag ließ Lang sich nicht unterkriegen. Er vermietete fortan seine Räumlichkeiten und bot neben Logis auch volle oder teilweise Verpflegung. Die dafür notwendigen Lebensmittel stammten nicht zuletzt aus seinen illegalen Aktivitäten.[23] Diese müssen so umfangreich gewesen sein, dass er es sich erlauben konnte, in Kriegszeiten einen Gaststättenbetrieb ohne gewerbliche Genehmigung am Laufen zu halten. Auf dem Sonnenhof herrschte so viel kriminelles Treiben, dass sich die Frage stellt, warum es erst eines weiteren Verstoßes Langs gegen den § 175 bedurfte, um aufzufliegen.

Anton Lang beherbergte im Sonnenhof während des Zweiten Weltkriegs bis zu 15 Mieter gleichzeitig. In der Mehrzahl waren es ausländische Arbeiter, die in den Betrieben der Stadt Rüstungsarbeit zu leisten hatten.[24] Im Sommer 1941 fragte Lang einen von diesen, den 28-jährigen Belgier Richard De Nul, ob er sein Zimmer haben könne.[25] Der Betreiber des Sonnenhofs hatte vor, es an einen Soldaten der nahen Adolf-Hitler-Kaserne und seine vorübergehend in Gmünd weilende Ehefrau zu vermieten. Stattdessen könne De Nul zusammen mit ihm im Ehebett übernachten, das seit dem Tod von Langs Gattin verwaist sei. De Nul, der vermutlich aufgrund seines Status als Fremdarbeiter keinen Ärger haben wollte, stimmte zu. In einer der folgenden Nächte, in denen Lang und De Nul zusammen im Doppelbett lagen, wurde der 63-jährige übergriffig. Er berührte den Penis des Schlafenden.

„Nachdem ich erwacht war, sagte ich zu ihm im Halbschlaf, was eigentlich los sei, worauf er sagt: ‚Richard es ist nichts los.‘ Dann war die Sache vorbei. Er legte sich auf die Seite und sagte, ‚das darf ich ja nicht machen.‘“
Richard De Nul[26]

Ein bis zwei Tage später versuchte es Anton Lang erneut. Er strich ihm über die Fußsohlen bis zum Knie. Als De Nul seine Hand wegschlug und weiteren Körperkontakt sich verbat, hörte Lang auf und der De Nul brachte den Vorfall nicht mehr zur Sprache. Brisant wurde es erst, als ein Jahr später, der Belgier, der bei der Zahnradfabrik Friedrichshafen (ZF) beschäftigt war, an seiner Arbeitsstelle einem betrieblichen Vertrauensmann davon erzählte. Vielleicht war De Nul der Vorfall herausgerutscht. Eventuell wurde er über die Zustände im Sonnenhof, wo mehrere Arbeiter der ZF einquartiert waren, befragt. Möglicherweise hatte man ihn unter Druck gesetzt, um gegen Lang vorgehen zu können. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass es ein Racheakt des Belgiers war, der zuvor mit Lang aneinander geriet, als der Wirt ihn zur Abgabe seiner Lebensmittelkarten aufgefordert hatte, obwohl De Nul sie sammelte, um damit seine Familie in Belgien mit Nahrungsmittelen zu versorgen.[27]

De Nuls Aussagen führten im Juli 1942 zu einer Verhaftung Langs, der sich nun in unterschiedlichen Verfahren, wegen Verstoßes gegen § 175 und weiteren Wirtschaftsverbrechen zu verantworten hatte. Im Strafverfahren wegen „Sittlichkeit“ ging es nun am Amtsgericht Gmünd darum, welche Version die wahre sei: Handelte es sich um Schlaftrunkenheit bzw. um einen Scherz oder um „homosexuelle Geschlechtslust“? Amtsgerichtsrat Sänger entschied sich für Letzteres. Er verurteilte am 19.08.1942 den Angeklagten zu einer Gefängnisstrafe von acht Monaten, da er die entlastenden Angaben Langs als unglaubwürdig zurückwies.[28] Vielmehr sei die abschreckende Wirkung seiner Vorstrafen nicht mehr vorhanden, sodass sie ihm erneut durch eine empfindliche Strafe in Erinnerung gerufen werde müsse. Das Urteil des Gerichts offenbarte nicht nur anhand des Strafmaßes, wie sehr sich die NS-Justiz von der liberalen und rechtsstaatlichen Auffassung der Weimarer Republik entfernt hatte. In der pervertierten Logik der NS-Justiz kam straferschwerend hinzu, dass Lang auf zweierlei Weise gegen das Prinzip der „Volksgemeinschaft“ verstoßen hatte: durch seine Homosexualität und weil er sich mit einem Ausländer einlassen wollte.

„Der Umstand, dass der Zeuge Ausländer ist, kann in diesem Fall nicht als strafmildernd, muss vielmehr als strafverschärfend angesehen werden. Ist in der Kriegszeit der Umgang mit Ausländern schon an sich auf ein Mindestmaß zu beschränken, so ist umso mehr verwerflich, sich in unsittlicher Weise mit Ausländern einzulassen, zumal dadurch auch das Ansehen des Deutschtums im Ausland beeinträchtigt wird.“
Amtsgerichtsrat Sänger[29]

Gegen das Urteil legte der Gmünder Rechtsanwalt Hermann Sattler Berufung ein.[30] Er argumentierte, dass es sich bei den Übergriffen um eine Verwechslung im Schlaf gehandelt habe. Die Strafe sei in der Höhe nicht angemessen gewesen, zumal es sich beim Betroffenen um einen feindlichen Ausländer handle. Der Vorfall hätte sich zudem vor einem Jahr abgespielt. Das Verhalten De Nuls sei deshalb als Racheakt zu bewerten, weil Lang Lebensmittelkarten von ihm gefordert hatte. Das Landgericht Ellwangen folgte in Teilen Sattlers Argumentation und sprach Lang am 14.10.1942 vom Vorwurf der Unzucht frei.[31] Das Gericht hatte nach klassischem Grundsatz „in dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten entschieden, da nicht eindeutig festgestellt werden konnte, ob er in „wollüstiger Absicht“ gehandelt hatte. Das Urteil ist insofern bemerkenswert, als dass es beweist, dass Richter auch noch 1942 nach liberal-rechtstaatlichen Kriterien entscheiden konnten. Allerdings standen sie damit in der Kritik ihrer richterlichen Kollegen vom „Sondergericht für den Oberlandesgerichtsbezirk Stuttgart“, die Langs Strafmaß in seinen wirtschaftlichen Verfehlungen zu bemessen hatten. Diese bewerteten den Freispruch als ein Urteil, das aus „subjektiven Gründen“ gefällt wurde.[32]

Akten Amtsgericht Gmünd, Strafsache gegen Lang, Anton (Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Ludwigsburg, Bestand F 269 II).

Mit dem Freispruch kam Anton Lang allerdings nicht auf freien Fuß. Vielmehr blieb er für seinen nächsten Prozess weiterhin in Untersuchungshaft im Amtsgerichtsgefängnis in Schwäbisch Gmünd. Das nächste Gerichtsverfahren in Stuttgart beschäftigte sich mit Langs „Verbrechen gegen die Kriegswirtschaftsverordnung“, womit hauptsächlich seine Schwarzschlachtungen gemeint waren, mit denen er seinen verbotenen Gewerbebetrieb aufrechterhielt. In erster Instanz verurteilte ihn das Sondergericht am 07.12.1942 zu neun Monaten Haft.[33] Das Urteil kassierte die nächsthöhere Instanz als zu milden Richterspruch.[34] Angesichts der „beherrschenden, gemeinschaftsfeindliche Gesinnung“ Langs würde die bisherige Straflänge seiner Taten nicht gerecht. In zweiter Instanz erhöhte deshalb das Sondergericht Stuttgart am 02.06.1943 das Strafmaß auf ein Jahr und zwei Monate. [35]

„Bei der Bemessung [der Strafe] kam zugunsten des Angeklagten noch in Betracht, dass er heute gesundheitlich ein völlig gebrochener Mann ist, den schon die bisher verbüßte Strafe außerordentlich hart getroffen hat.“
Urteil des „Sondergerichts für den Oberlandesgerichtsbezirk Stuttgart“, 02.06.1943

Als Anton Lang letztendlich entlassen wurde, stand er vor dem Scherbenhaufen seiner Existenz. Er hatte alles verloren. Das Sondergericht beschrieb bereits im Urteil 1943 die damalige Situation Langs als trostlos: Den Sonnenhof hatte die NS-Volkswohlfahrt im Februar 1943 beschlagnahmt. Ohne Besitz, ohne Einkünfte und nur mit einer kleinen Rente versehen, müsse er bei seiner Schwester unterkommen.[36] Ausgezehrt und entkräftet von den ständigen Verfahren, Gefängnishaft und Kriegszeit starb er schließlich am 23.05.1948 in Schwäbisch Gmünd.

Literaturverzeichnis
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Friedrich, Max H.: Tatort Kinderseele, Sexueller Missbrauch und die Folgen, Wien 2001, S. 42.

Archivalische Quellen
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Akten Amtsgericht Gmünd, Strafsache gegen Lang, Anton (Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Ludwigsburg, Bestand F 269 II).
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Meldekarten zu Anton Lang, (Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd, A12a.01 Meldekartei Schwäbisch Gmünd bis 1927 und A12a.02.01_EMK 1927-66).
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Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd (Hg.): Tagebücher eines Stadtarchivars, Die Schwäbisch Gmünder Kriegschronik von Albert Deibele (1939–1945), in: Quellen aus dem Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd Band 2, https://d-nb.info/1211956792/34, (Abruf: 05.06.2024), S. 467 – 469.
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Strafprozessakte von Anton Lang wegen Verstoßes gegen die Kriegswirtschaftsverordnung (Bundesarchiv Berlin, Bestand R 3003/30093).
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Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, in: wikipedia.de, https://de.wikisource.org/wiki/Strafgesetzbuch_f%C3%BCr_das_Deutsche_Reich_(1871)#%C2%A7._176, (Abruf: 19.06.2024).
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Gasthof Josefle in den 1920er Jahren (Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd, Bestand E 5, Nr. 6, Bild 86)
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Akten Amtsgericht Gmünd, Strafsache gegen Lang, Anton (Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Ludwigsburg, Bestand F 269 II).

[1] Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd (Hg.): Tagebücher eines Stadtarchivars, Die Schwäbisch Gmünder Kriegschronik von Albert Deibele (1939–1945), in: Quellen aus dem Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd Band 2, https://d-nb.info/1211956792/34, (Abruf: 05.06.2024), S. 467 – 469.

[2] Strafprozessakte von Anton Lang wegen Verstoßes gegen die Kriegswirtschaftsverordnung (Bundesarchiv Berlin, Bestand R 3003/30093).

[3] Akten Amtsgericht Gmünd, Strafsache gegen Lang, Anton (Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Ludwigsburg, Bestand F 269 II).

[4] Deibele: Kriegschronik, S. 467.

[5] Vernehmungsprotokoll Anton Lang, 09.07.1942, in: (LABW, StAL, Bestand F 269 II).

[6] Friedrich, Max H.: Tatort Kinderseele, Sexueller Missbrauch und die Folgen, Wien 2001, S. 42.

[7] Siehe Deibele: Kriegschronik, S. 467 und Meldekarten zu Anton Lang, (Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd, A12a.01 Meldekartei Schwäbisch Gmünd bis 1927 und A12a.02.01_EMK 1927-66).

[8] Siehe Deibele, Kriegschronik, S. 467f.

[9] Siehe dazu Urteil gegen Anton Lang, 07.12.1942 (BArch, R 3001/178111, Image 0012-0015).

[10] Siehe Deibele, Kriegschronik, S. 467f und Meldekartei Anton Lang bis 1927.

[11] Auszug aus dem Strafregister von Anton Lang, Staatsanwaltschaft Ulm 22.07.1942 (LABW, StAL, Bestand F 269 II).

[12] „Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt eine Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten ein.“ Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, in: wikipedia.de, https://de.wikisource.org/wiki/Strafgesetzbuch_f%C3%BCr_das_Deutsche_Reich_(1871)#%C2%A7._176, (Abruf: 19.06.2024).

[13] Auszug aus dem Strafregister von Anton Lang, Staatsanwaltschaft Ulm 22.07.1942 (LABW, StAL, Bestand F 269 II).

[14] Deibele gibt an, Lang hätte sich mehrere Jahre im Haft befunden. Vgl. Deibele, Kriegschronik, S. 467 und Auszug Strafregister Lang.

[15] Deibele, Kriegschronik, S. 467.

[16] Auszug Strafregister Lang.

[17] Vernehmungsprotokoll Anton Lang, 09.07.1942 (LABW, StAL, Bestand F 269 II).

[18] Deibele, Kriegschronik, S. 467.

[19] Auszug Strafregister Lang (LABW, StAL, Bestand F 269 II) und Urteil gegen Anton Lang, 07.12.1942 (BArch, R 3001/178111, Image 0012-0015).

[20] Deibele, Kriegschronik, S. 468 und Urteil, 07.12.1942 (BArch, R 3001/178111, Image 0013).

[21] Auszug Strafregister Lang (LABW, StAL, Bestand F 269 II).

[22] Anklageschrift, 18.11.1942 (BArch, R 3001/178111, Image 0030-0040).

[23] Ebd.

[24] Ebd.

[25] Zu den unterschiedlichen Versionen siehe: Richard De Nul, Protokoll Kriminalpolizei Schwäbisch Gmünd, 07.07.1942 (Staats und Anton Lang, Protokoll Kriminalpolizei Schwäbisch Gmünd, 09.07.1942 (LABW, StAL, Bestand F 269 II).

[26] Richard De Nul, Protokoll, 07.07.1942, in: (LABW, StAL, Bestand F 269 II).

[27] Richard De Nul, Protokoll Kriminalpolizei Schwäbisch Gmünd, 07.07.1942 (Staats und Anton Lang, Protokoll Kriminalpolizei Schwäbisch Gmünd, 09.07.1942 (LABW, StAL, Bestand F 269 II).

[28] Urteil gegen Anton Lang, Amtsgericht Schwäbisch Gmünd, 19.08.1942 (LABW, StAL, Bestand F 269 II).

[29] Ebd.

[30] Schreiben Anwaltskanzlei Hermann Sattler an das Amtsgericht Schwäbisch Gmünd, 23.08.1942 (LABW, StAL, Bestand F 269 II).

[31] Urteil gegen Anton Lang, Landgericht Ellwangen, 14.10.1942 (LABW, StAL, Bestand F 269 II).

[32] Urteil gegen Anton Lang, 07.12.1942 (BArch, R 3001/178111, Image 0013).

[33] Ebd. (Image 0012-0015).

[34] Nichtigkeitsbeschwerde des Oberreichsanwalts beim Reichsgericht Leipzig, 13.05.1943. (BArch, R 3001/178111, Image 0008-0010).

[35] Urteil in der Strafsache gegen Anton Lang, 02.07.1943, Sondergericht für den Oberlandesgerichtsbezirk Stuttgart (BArch, R 3001/178111, Image 0064-0067).

[36]

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