Mit dem Gesetz erpresst: Karl Schwab und die Angst der Anderen

Der Fund – Ein unscheinbares Dokument
Auf den ersten Blick erscheint der Fund wenig spannend: eine Meldekarte[1] aus der Kaiserzeit, handschriftliche Einträge, unvollständig und stellenweise schwer lesbar. Darin vermerkt: Schwab, Karl, geboren am 25. Oktober 1882 in Schwäbisch Gmünd, ledig, evangelisch und Stahlgraveur, wohnhaft unter anderem in der Ledergasse 5.

Meldekarte Karl Schwab

Dann, 1905, berichtet die Staatsbürger-Zeitung[2] in Leipzig von einem „Gauner“, einem „Hochstapler“ – Name: Schwab, gebürtig aus Schwäbisch Gmünd. Die Datenlage ist dünn, doch mit großer Sicherheit lässt sich annehmen, dass es sich um dieselbe Person handelt.

Meldung aus der Staatszeitung vom 28. Februar 1905 – Schwab, der „Glücksritter“ und „Gauner“

Von der Polizeimeldung zur queeren Geschichtsaufarbeitung
Warum könnte dieser unscheinbare Fund für die queere Geschichtsforschung von Bedeutung sein? Der Artikel vom 28. Februar 1905 berichtet, Schwab sei quasi in flagranti erwischt worden, als er ein Antwortschreiben auf einen Erpresserbrief in Empfang nehmen wollte. Die Polizei unterband erfolgreich weitere kriminelle Versuche der Saläraufbesserung. Lediglich angeführt in diesem Zusammenhang wird die höhere Beamtenschaft Leipzigs, darunter auch Reichsgerichtspräsident Dr. Gelbrod, weitere Erläuterungen werden nicht angefügt. Hinweise zum Inhalt der Erpressung, mögliche Anklagepunkte oder gar eine Verurteilung fehlen – nicht nur in diesem Artikel, sondern auch in allen folgenden. Schwab bleibt somit weniger als eine Fußnote in der Geschichtsschreibung.

Gerade aber die reißerische Wortwahl, die Schwab sogar als „Glücksritter“ beschreibt, lässt aufhorchen: Es wird mehr Druckerschwärze verwendet, um Schwab als Mensch zu diffamieren, als dass man erfährt, worum es tatsächlich ging. Mehr Geheimnis als Aufklärung – typisch für die tendenziöse Staatsbürger-Zeitung, die sich seit ihrer Gründung immer weiter ins nationalistische Lager bewegte.

Der Kontext: §175 und die Kultur der Erpressung
Spannend wird der Fall, wenn man weiß, dass dieser Artikel Eingang finden wird in die Monatsberichte des wissenschaftlich-humanitären Komitees, gegründet 1897. Wichtigstes Mitglied: der Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld[3]. Ziel dieser weltweit ersten Organisation war es, sexuelle Handlungen zwischen Männern zu entkriminalisieren. Petitionen zur Abschaffung des §175 scheiterten jedoch. Hirschfeld und sein Komitee sammelten unter anderem Berichte zu Erpressungsfällen, um auf die gravierenden sozialen und rechtlichen Folgen der Kriminalisierung von Homosexualität aufmerksam zu machen.

Magnus Hirschfeld, 1929, https://commons.wikimedia.org/­wiki/File:World_League_for_Sexual_­Reform_conference._Wellcome_L0024860.jpg

Damit sind wir mittendrin im Geschehen: Der §175 führte in der Kaiserzeit zu einer populären Welle gezielter Erpressung gegen homosexuelle Männer. Einige dieser Erpressungen entstanden im familiären oder sozialen Umfeld, andere nutzten gezielt codierte Kontaktanzeigen in Zeitungen. Besonders die professionalisierten Fälle waren meist erfolgreich und lukrativ – denn seitens der Betroffenen war kaum Gegenwehr zu erwarten. Erpressung im Zusammenhang mit §175 war keine Seltenheit. Viele Täter dürften kaum ein Unrechtsbewusstsein gehabt haben – im Gegenteil: In ihrem Weltbild hatte der Erpresste die Konsequenzen „nicht anders verdient“.

Schwierige Quellen – codierte Sprache und Schweigen
Wie dieser Fall zeigt, ist die Quellenlage in diesem Forschungsfeld extrem schwierig. Homosexualität spielte sich im Verborgenen ab. Zeitungsartikel verwendeten codierte Sprache. Solange es sich nicht um öffentliche Persönlichkeiten handelte, wird es für Historiker*innen schwierig, Licht ins Dunkel zu bringen – und selbst bei bekannten Figuren bleibt vieles Spekulation. Ein öffentliches Coming-out war in der Kaiserzeit undenkbar – ganz anders als das berühmte „… und das ist gut so“ von Klaus Wowereit aus dem Jahre 2001.

Diese Leerstelle im Archiv ist für die Forschung ärgerlich, aber sie lädt auch dazu ein, über die gesellschaftliche Bedeutung des §175 nachzudenken – eines Paragrafen, der erst 1994 im wiedervereinigten Deutschland endgültig gestrichen wurde.

Der §175 als gesellschaftliches Erziehungsinstrument
Der §175 diente nicht nur der Repression – er stabilisierte auch das Patriarchat. Männer hatten in diesem System die Definitionsmacht und mussten sich der vorgegebenen Norm entsprechend verhalten. Wer aus der Rolle fiel, stellte das System infrage. Offen ausgesprochen wurde das selten – stattdessen deklarierte man Homosexualität als „widernatürlich“ und bediente sich pseudowissenschaftlicher Argumentationen, um diese „Gefahr“ einzudämmen.

Die Nationalsozialisten trieben diese Logik auf die Spitze, indem sie Homosexuelle in Konzentrationslager deportierten und ermordeten. Doch weil Homosexualität eine natürliche Veranlagung ist – ähnlich wie Augen- oder Haarfarbe –, lassen sich solche „Abweichungen“ weder durch Strafrecht noch durch Gewalt „ausrotten“.

Normierung, Angst und Schattenleben
Letztlich ging es um die Einschränkung von Individualisierungstendenzen, die aus Angst, Unwissenheit und Kontrollbedürfnis als Bedrohung wahrgenommen wurden. Der lange Weg zur Abschaffung des §175 zeigt, wie tief verwurzelt diese Denkweisen sind – eingebettet in ein Erziehungssystem aus tradierten Normen und Werten. Noch heute erleben wir absurde Situationen, in denen ein Junge kein rosa Polohemd tragen darf – aus Angst, er könne „schwul wirken“ oder dadurch gar homosexuell werden.

Ein besonders aufschlussreiches Detail: Der §175 bezog sich ausschließlich auf Männer. Lesbische Frauen tauchen im juristischen Diskurs gar nicht auf. In einem patriarchalen System werden Frauen unsichtbar gemacht – besonders dann, wenn sie sich in den Bereich von Sexualität und Eigenständigkeit bewegen. Die Maßregelung lesbischer Frauen erfolgte weitgehend innerhalb familiärer oder sozialer Strukturen.

Schwab als Täter – und Produkt seiner Zeit
Ein anderer Aspekt ist die Rolle der Erpresser: Der §175 machte es auch für „normale“ Bürger einfach, ihre kriminellen Impulse zu legitimieren. Schwule Männer schalteten codierte Anzeigen, und wer sie verstand, konnte sie gezielt erpressen – mit geringer Gefahr, angezeigt zu werden. Denn eine Anzeige hätte vermutlich mehr geschadet als genutzt.

Karl Schwab, der mit seiner Ausbildung eigentlich ein solides Auskommen gehabt hätte, entschied sich offenbar, sein Einkommen auf unmoralische Weise aufzubessern. Er hatte jedoch das Pech, sich Kreisen zu nähern, in denen andere Netzwerke griffen. Auffällig ist: Die Staatsbürger-Zeitung meldet seine Verhaftung – doch es folgt nichts weiter. Keine Anklage, keine Nachberichterstattung. Gerade dieses Schweigen legt nahe, dass hier elitäre Schutzmechanismen aktiv wurden.

Ein Paragraph als doppelte Bedrohung
Gesetze sollen gesellschaftliche Verhältnisse regeln und Sicherheit schaffen. Doch §175 erfüllte diese Funktion nicht – im Gegenteil. Er war doppelt schädlich: Er kriminalisierte eine Minderheit und zwang sie in ein Leben voller Lügen, während er gleichzeitig „normale“ Bürger dazu verleitete, selbst kriminell zu werden. Viele Erpresser sahen sich im Recht, da Homosexualität als krank und moralisch verwerflich galt.

Für die Gesellschaft bedeutete das: Die Basis – das Gesetz – war faul. Der moralische Anspruch des Staates wurde durch seine eigene Gesetzgebung untergraben.

[1] Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd, Bestand A12a.01, Einwohnermeldekarteien

[2] https://magnus-hirschfeld.de/site/assets/files/6667/monatsberichte_1904-1908_klein.pdf, S. 81

[3] Bundesstiftung Hans Magnus Hirschfeld: https://mh-stiftung.de/projekte/biografien/magnus-hirschfeld/, Zugriff am 15. Mai 2025.

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