Ein Ort zum Atmen – Die Szenekneipe „Atelier“ und die stille queere Subkultur der 1950er
In den 1950er Jahren stand die queere Subkultur in Deutschland unter enormem gesellschaftlichem Druck. Das Jahrzehnt war geprägt vom Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg, einem konservativen Gesellschaftsbild und einer rigiden Sexualmoral. Homosexuelle Menschen – insbesondere Männer – lebten unter der ständigen Bedrohung strafrechtlicher Verfolgung und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Nur wenige Räume boten ihnen die Möglichkeit, so zu sein, wie sie waren, ohne ihre Identität verbergen oder gesellschaftliche Sanktionen fürchten zu müssen. In Schwäbisch Gmünd existierte ein solcher Ort zum (Durch-)Atmen: Das „Atelier“.
Queere Subkultur in den 1950er Jahren in Deutschland[1]
Rechtlicher Rahmen: Der §175 StGB
Einer der zentralen Faktoren, der das Leben homosexueller Männer in der Bundesrepublik prägte, war der §175 des Strafgesetzbuches. Dieser Paragraph, bereits 1871 im Kaiserreich eingeführt, stellte sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe. Die Nationalsozialisten hatten das Gesetz 1935 erheblich verschärft: Bereits „begehrliche Blicke“ oder „versuchte Annäherung“ konnten strafbar sein. Nach 1945 wurde diese Fassung in der Bundesrepublik Deutschland übernommen und bis 1969 beibehalten. Zwischen 1949 und 1969 kam es zu mehr als 50.000 Verurteilungen aufgrund des §175 – mehr als in der Weimarer Republik und sogar mehr als in der NS-Zeit.[2]
Lesbische Frauen wurden nicht direkt durch §175 erfasst, blieben jedoch nicht weniger von Diskriminierung betroffen. Ihre Existenz wurde gesellschaftlich weitgehend ignoriert oder als nicht ernst zu nehmende „Phase“ abgetan. Es fehlte an rechtlicher Sichtbarkeit, institutioneller Anerkennung oder Schutz.[3]
Gesellschaftliches Klima
Das gesellschaftliche Klima der 1950er Jahre war von einer konservativen Geschlechterordnung und der Idealisierung der heterosexuellen Kleinfamilie geprägt. Homosexualität galt in der öffentlichen Meinung als Krankheit oder Sittenverfall, der das gesellschaftliche Gefüge bedrohte. Kirche, Medizin und Staat standen in ihrer ablehnenden Haltung oft geschlossen zusammen. Homosexuelle Menschen sahen sich daher nicht nur mit strafrechtlicher Verfolgung konfrontiert, sondern mussten auch gesellschaftliche Ächtung fürchten – bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes oder dem Ausschluss aus der Familie. Die Tabuisierung zwang viele queere Menschen in ein Doppelleben. Aus Angst vor Denunziation blieben sie unsichtbar, da öffentliches Auftreten mit enormen Risiken verbunden war.[4]
Räume der Subkultur
Trotz der repressiven Umstände entstanden in den 1950er Jahren Rückzugsorte, in denen sich queere Menschen treffen, austauschen und eine Form von Zugehörigkeit erleben konnten. Diese Orte waren meist gut versteckt: Kneipen, Hinterzimmer, Clubs oder bestimmte Parks galten als Treffpunkte, deren Adressen sich über Mundpropaganda oder Codes verbreiteten. Im Stuttgarter Raum gab es etwa die „Bachstelze“ (später „Café Weiß“), die „Baßgeige“, das „Café Gymnasium“ oder das „Weiße Rössl“, die eine halböffentliche Szene ermöglichten.[5]
Solche Orte dienten nicht nur als Schutzraum, sondern waren auch Ausgangspunkt für eine sich formierende Subkultur. Kleidung, Sprache, Musik und Verhaltensweisen entwickelten sich zu kulturellen Codes, die innerhalb der Szene verstanden wurden. Diese Codes schufen eine Identität jenseits gesellschaftlicher Normen und bildeten die Grundlage für spätere politische Bewegungen.
Leben in der Provinz – ein Zufluchtsort entsteht
Abseits der Großstädte war das Leben für queere Menschen in den 1950er und 1960er Jahren von starker Vereinzelung und Unsichtbarkeit geprägt. Die Möglichkeiten, Gleichgesinnte zu treffen oder sich zu vernetzen, waren auf dem Land stark eingeschränkt. Es fehlte an Treffpunkten, wie sie in den Metropolen langsam wieder entstanden.
In diesem repressiven Umfeld übernahm Hermann Hörner 1951 als Pächter die Wirtschaft „Walachei“ in der Sebaldstraße 17 und verwandelte sie in das Lokal „Atelier“.[6] Hermann Hörner (1904–1967) war ein renommierter Kunstmaler aus Schwäbisch Gmünd, dessen Leben und Werk eng mit den kulturellen und politischen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts verknüpft sind. Doch Hörners Biografie wurde nicht nur von diesen historischen Rahmenbedingungen geformt, sondern auch durch die gesellschaftlichen Restriktionen jener Zeit, die ihn dazu zwangen, seine Homosexualität zu verbergen. Dieser Druck führte dazu, dass Hörner ein Doppelleben führte: Einerseits etablierte er sich als gefeierter Künstler in der öffentlichen Wahrnehmung, andererseits musste er seine sexuelle Orientierung im Verborgenen halten.[7]
Die Gründe für Hermann Hörners Entscheidung, das Lokal zu eröffnen, sind vermutlich vielschichtig. Die veränderten Lebensrealitäten der Nachkriegszeit zwangen ihn, andere Prioritäten zu setzen, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Die Malerei allein reichte dazu nicht mehr aus. Möglicherweise spielte auch eine persönliche Sehnsucht eine Rolle: Nach langen Jahren in Berlin und anderen europäischen Weltstädten, aus denen er erst zum Kriegsende nach Schwäbisch Gmünd zurückgekehrt war, vermisste Hörner vermutlich das reichhaltige Szeneleben der Metropolen. Das „Atelier“ könnte sein Versuch gewesen sein, künstlerische Tätigkeit und gesellschaftlichen Treffpunkt miteinander zu verbinden – darauf deutet bereits der Name hin.

Atmosphäre und Charakter des Lokals
Das „Atelier“ entwickelte sich unter Hörner zu einem Ort mit ganz besonderer Atmosphäre. Die warme Holzverkleidung, gedämpftes Licht und gemütliche Sitznischen verliehen dem Lokal einen intimen, fast wohnlichen Charakter. Hier konnte man auch spät am Abend noch einkehren – ein Privileg, das aufgrund des Jugendverbots ausschließlich Gästen ab 18 Jahren vorbehalten war. Diese Altersbeschränkung verstärkte den Eindruck eines exklusiven Refugiums für Erwachsene.[8]
Nach außen hin entwickelte sich das „Atelier“ unter Hörners Führung zu einem Treffpunkt für die „Bohème“ von Schwäbisch Gmünd – einem Anlaufpunkt für Menschen, die dem gesellschaftlichen Spießertum und der konservativen Enge der Stadt entfliehen wollten. Wie intensiv das Lokal genutzt wurde, belegen die zahlreichen Gesuche um Verlängerung der Sperrstunde, die sich im Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd finden.[9]
Wenigen war jedoch bekannt, dass sich das „Atelier“ im Laufe der Zeit auch zu einer wichtigen Anlaufstelle innerhalb der Schwulen- und Lesbenszene entwickelte. Hier fanden Homosexuelle, abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit, einen geschützten Raum für Austausch und Begegnung. Das Lokal bot damit etwas, was in der Provinz der 1950er Jahre nahezu unmöglich schien: einen Ort, an dem queere Menschen authentisch leben konnten, ohne Angst vor Verfolgung oder gesellschaftlicher Sanktionierung haben zu müssen.[10]


Das Ende einer Illusion: Razzia im „Atelier“
Dass auch diese scheinbar geschützte Situation nur vorübergehend war, machte ein Skandal Ende der 1950er Jahre deutlich. Neben den regulären Polizeibehörden existierte die sogenannte Sittenpolizei, die gezielt homosexuelle Treffpunkte überwachte. In Großstädten ging sie regelmäßig auf Streife, um Homosexuelle in flagranti zu ertappen – sei es in Parkanlagen, auf öffentlichen Toiletten oder in den wenigen existierenden schwulen Kneipen und Bars, in denen gelegentlich Razzien durchgeführt wurden.[11]
Eines Abends schlug die Sittenpolizei auch bei Hermann Hörner zu. Die Ausbeute war für eine Stadt von der Größe Schwäbisch Gmünds enorm und entwickelte sich zu einem beispiellosen Skandal. Auf der Polizeiwache fanden sich „stadtbekannte Größen“ wieder – zahlreiche Unternehmer lokaler Betriebe und Geschäftsinhaber, die aufgrund von Verstößen gegen § 175 erkennungsdienstlich behandelt und verhört wurden.[12]
Diese Ereignisse enormen Ausmaßes offenbarten eine bemerkenswerte gesellschaftliche Realität: Die queere Subkultur war keineswegs auf gesellschaftliche Randgruppen beschränkt, sondern reichte tief in die bürgerliche Mitte der Stadtgesellschaft hinein. Gerade die angesehenen Bürger, die tagsüber das konservative Gesellschaftsbild repräsentierten, suchten abends Zuflucht in dem diskreten Ambiente des „Ateliers“. Die Razzia legte die Doppelmoral einer Gesellschaft bloß, die Homosexualität öffentlich verdammte, während sie in ihren eigenen Reihen weitverbreitet war.
Bezeichnend ist, dass der Vorfall höchstwahrscheinlich nie in der Presse behandelt wurde. Er passte weder in das Bild der heilen Kleinstadt noch war eine öffentliche Diskussion erwünscht – zu brisant war die Angelegenheit, da sie die gesellschaftliche Elite der Stadt betraf. Dennoch wurde die Razzia Teil des städtischen Klatsches, auch wenn sie offiziell totgeschwiegen wurde.[13]
Vom Gastronomen zurück zum Künstler
Im Zuge des Skandals musste Hermann Hörner die Leitung des „Ateliers“ an einen Nachfolger übertragen.[14] Doch dieser erzwungene Rückzug aus dem Gastronomiebetrieb eröffnete ihm paradoxerweise neue Lebensperspektiven. In seinem letzten Lebensjahrzehnt intensivierte Hörner seine Malerei- und Reisetätigkeit: Griechenland, Italien, Spanien und die Türkei wurden zu neuen Inspirationsquellen, deren Eindrücke sich unübersehbar in seinem späteren künstlerischen Werk widerspiegelten.
Ab 1958 begleitete ihn auf diesen Reisen sein neuer Partner Antonio Arroyo, ein Spanier, den er vermutlich während seiner wiederholten Aufenthalte in Spanien kennengelernt hatte. Arroyo sollte sich als Hörners letzte große Liebe erweisen – er begleitete den Künstler auf seiner letzten Studienreise, als dieser 1967 in Terracina, Italien, einem Herzinfarkt erlag.[15]
Kontinuität im Wandel: Das Atelier nach Hörner
Das „Atelier“ selbst sollte noch bis in die 1970er Jahre hinein bestehen. Unter neuer Führung wurde es verstärkt als das „At“ bekannt und blieb weiterhin ein Treffpunkt der queeren Szene. Mit dem gesellschaftlichen Wandel der späten 1960er Jahre entwickelte es sich zudem zunehmend zu einem alternativen Lokal für die studentische Szene – einen Ort, der Hörners ursprüngliche Vision eines Refugiums für Nonkonformisten über seinen Tod hinaus weitertrug.[16]
[1] Einen ersten Einblick in diese Zeit gibt die Monografie von Gammerl, Benno: Queer, eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute, München 2023. Wissenschaftlich fundiert und in seiner Quellentiefe einmalig ist Munier, Julia Noah: Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2021.
[2] Hoffschildt, Rainer: 140.000 Verurteilungen nach „§ 175“. In: Fachverband Homosexualität und Geschichte e. V. (Hrsg.): Invertito – 4. Jg. – Denunziert, verfolgt, ermordet: Homosexuelle Männer und Frauen in der NS-Zeit. MännerschwarmSkript Verlag, Hamburg 2002, S. 140–149; LSVD, Verband Queere Vielfalt, https://www.lsvd.de/de/ct/934-Von-1933-bis-heute-Lesben-und-Schwule-in-Deutschland-und-der-DDR#nach-kriegsende, (Abruf: 26.06.2025) und Justiz und Homosexualität – Schwule und Lesben in der Rechtsprechung des 20. Jahrhunderts, https://www.hsozkult.de/event/id/event-84214, (Abruf: 26.06.2025).
[3] Repression gegen lesbische Frauen, in: LSBTTIQ in Baden-Württemberg, https://www.lsbttiq-bw.de/historischer-kontext/repression-gegen-lesbische-frauen/, (Abruf: 26.06.2025).
[4] Gleichberechtigte Mitmenschen? Homosexuelle und die Bundesrepublik Deutschland, in: Bundeszentrale für politische Bildung (BpB): https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/275113/gleichberechtigte-mitmenschen/, (Abruf: 26.06.2025).
[5] Homosexuelle Netzwerke und Subkulturen, in: LSBTTIQ in Baden-Württemberg, https://www.lsbttiq-bw.de/historischer-kontext/netzwerke-und-subkultur/, (Abruf: 26.06.2025).
[6] Siehe dazu auch: Zanek, Theodor, Gmünder Häuser, S. 157 – 159. Zanek gibt an, Hörner hätte das „Atelier“ 1960 übernommen. Diese Aussage ist falsch.
[7] Zur Biografie des Malers siehe: Kolb, Arnd: Ein Leben im Licht, ein Leben im Schatten: Der Maler Hermann Hörner. In: Kolb, Arnd (u.a.): Aus dem Schatten in die Geschichte, Lebenswelten von LSBTI* in und um Schwäbisch Gmünd, Schwäbisch Gmünd 2025.
[8] Siehe dazu auch: Zanek, Theodor, Gmünder Häuser, S. 157 – 159. Zanek gibt an, Hörner hätte das „Atelier“ 1960 übernommen. Diese Aussage ist falsch.
[9] Zur Biografie des Malers siehe: Kolb, Arnd: Ein Leben im Licht, ein Leben im Schatten: Der Maler Hermann Hörner. In: Kolb, Arnd (u.a.): Aus dem Schatten in die Geschichte, Lebenswelten von LSBTI* in und um Schwäbisch Gmünd, Schwäbisch Gmünd 2025.
[10] Zeitzeugenaussage von U.H. vom 23.04.2026.
[11] Munier, Julia Noah: Lebenswelten, insbesondere Kapitel 4.1.2, Anonyme Treffpunkte und kriminalpolizeiliche Repression, S. 330ff.
[12] Zeitzeugenaussage von U.H. vom 23.04.2026.
[13] Ebd.
[14] Ebd.
[15] Kolb, Arnd: Ein Leben im Licht, ein Leben im Schatten.
[16] Zeitzeugenaussage von W.S. vom 23.04.2026.