Leere Seiten, laute Botschaft

Der schwule Reiseführer „Schwäbisch Gmünd von hinten“

In den 1970er und 80er Jahren entstanden die ersten schwulen Verlage und Buchhandlungen in Deutschland [1] und reihten sich damit ein in eine Reihe neuer politischer und sozialer Bewegungen, die sich mit der Gleichberechtigung von Homosexuellen und der Frage nach sexueller Selbstbestimmung beschäftigten. Der Großteil der Verlage entstand in den Großstädten Berlin, Hamburg und Köln. Deren Publikationen, die von klassischen Romanen mit homosexuellen Handlungen, über akademische Abschlussarbeiten, bis hin zu expliziter schwuler Pornografie in Print reichten, konnten durch ein enges Netzwerk der Verlage und Buchhandlungen untereinander deutschlandweit erworben werden und erreichten somit auch die kleine schwule Szene Schwäbisch Gmünds. In den 1980er Jahren rückte diese verstärkt in die Öffentlichkeit, indem sich 1982 die Homosexuellen Initiative Schwäbisch Gmünd, kurz HIS, gründete. Deren drei Gründer Roland Lämmle, Jürgen Dannwolf und Joschi Moser hatten es sich zur Aufgabe gemacht, durch eine aktive Präsenz in der Öffentlichkeit sowohl Vorurteile gegenüber Homosexuellen abzubauen als auch selbstbestimmt und offen schwul lebend aufzutreten.

Ein kleines, grünes, unscheinbares Heftchen sorgte in ebendieser Szene für einige Lacher. Grund dafür war neben dem Titel „Gmünd von hinten“ auch sein überraschender Inhalt. Das Heftchen ist aktuell in der Ausstellung  „Wish you were queer – Un-Sichtbarkeit von LSBTI* in Kunst und Geschichte im Museum im Prediger zu sehen und stammt aus Joschi Mosers Privatarchiv. Die Ausstellung ist thematisch in zwei Bereiche gegliedert. Zum einen präsentiert die Schau Kunstwerke vom Mittelalter bis heute und zeigt den stark schwankenden Grad der Sichtbarkeit im Bild an. In den Arbeiten von über 30 Künstler*innen wird die sexuelle, romantische und geschichtliche Vielfalt dargestellt. Zum anderen fokussiert sich die Ausstellung in zwei eigens dafür reservierten Räumen auch auf die Entwicklung in der Region. Queere Gmünder*innen werden vorgestellt, deren Biografien und Lebenswelten zum größten Teil in der vor zwei Jahren gegründeten queeren Geschichtswerkstatt „Einhorn sucht Regenbogen“ erforscht wurden und auf dieser Website präsentiert werden.

Gleich am Anfang des lokalen Geschichtsbereichs trifft man auf das kleine Heftchen, dessen aufgeschlagene Präsentation zugleich seinen Inhalt offenbart: hunderte leere Seiten.

Satirischer Reiseführer "Gmünd von hinten"
Ausgabe von Bruno Gmünders Reiseführerreihe „von hinten“ aus dem Jahr 1992

Daneben liegt ein weiteres Buch mit dem Titel „Stuttgart von hinten“. Ein reich bebilderter und prall gefüllter schwuler Reiseführer der Landeshauptstadt. Ab 1981 veröffentlichten Bruno Gmünder und Christian von Maltzahn eine Reihe von schwulen Reiseführern, die mit „Berlin von hinten“ begann. Die Reihe, die neben Berlin auch weitere deutsche Großstädte wie Köln, München oder Hamburg beinhaltete, enthält neben praktischen Informationen zu schwulen Bars, Clubs und Treffpunkten der jeweiligen Städte auch kulturelle und historische Hintergründe, die für die LSBTI* Gemeinschaft von Bedeutung sind. Die Gmünder Ausgabe, herausgegeben vom „Pusteblume Verlag“, unterscheidet sich in Layout und Inhalt somit stark von den anderen Büchern in der Reihe.

In Schwäbisch Gmünd wurde das Heftchen als passender satirischer Beitrag zur gesellschaftlichen Realität für schwule Männer in der schwäbischen Kleinstadt aufgefasst. Neben fehlenden Szenetreffpunkten kann der Titel mit entsprechend leerem Inhalt auch als Fingerzeig in Richtung fehlender Sichtbarkeit und mangelnder Akzeptanz in der Gmünder Stadtgesellschaft gesehen werden. Dies war jedenfalls die Interpretation der Schwäbisch Gmünder Szene, die lange Zeit rätselte, aus wessen Feder dieses Heftchen stammt.

Die eigentliche Symbolik des Heftchens ist jedoch eine andere. 1981 gründete Jürgen Klaubert in Bielefeld seinen Ein-Mann-Verlag „Pusteblume“, um sein autobiografisches Coming-Out-Buch namens „Neuland“ herauszubringen.[2] In den darauffolgenden Jahren folgten weitere eigene Publikationen sowie ein äußerst erfolgreicher Taschenkalender im Jahr 1984 mit dem Titel „Schwul84“, dessen 2.000 Exemplare sich in kürzester Zeit verkauften. Eine für damalige Zeit vergleichsweise hohe Auflagenzahl. Da die schwulen Verlage und Buchhandlungen in jener Zeit gut vernetzt waren, ging Klaubert mit seinen Büchern auf Lesereise in ganz Deutschland.

Im selben Jahr von Klauberts Verlagsgründung entstand der Bruno Gmünder Verlag in Berlin. Gegründet von Bruno Gmünder und Gerd Christian von Maltzahn verfolgte der Verlag ein kommerzielles Ziel und setzte auf größere Auflagen, mehr Werbung und die Übernahme bereits erfolgreicher schwuler Zeitschriften oder Buchreihen wie die des amerikanischen „Spartacus Gay Guides“.[3] In kürzester Zeit schafften es Gmünder und von Maltzahn den Verlag auf ein finanziell solides Fundament zu stellen und verdrängten somit die kleineren, aktivistischen und teilweise „Ein-Mann-Verlage“ mit sehr viel weniger finanziellen Mitteln vom Markt. Als Antwort auf Bruno Gmünders Verlagspolitik brachte Klaubert Anfang der 1980er das kleine Heftchen mit dem Titel „Gmünd von hinten“ in 1.000-facher Auflage heraus. Der Titel bezog sich einerseits auf die im Bruno Gmünder Verlag herausgebrachte Reiseführer-Reihe „von hinten“, andererseits stellte Klaubert damit seine Ablehnung der rein kommerziellen Herangehensweise heraus. Das „Schwäbisch“ im Titel soll die geizige Mentalität des Verlegers parodistisch unterstreichen und „Gmünd“ ist die Anspielung auf seinen Nachnamen Gmünder.

„Ich hatte bei der Publikation des Heftchens nie die Stadt Schwäbisch Gmünd im Hinterkopf, sondern immer nur den Verleger Bruno Gmünder, dem ich mit dem Titel humoristisch eins auswischen wollte“
Jürgen Klaubert

Die 1.000 Exemplare leerer Seiten verkauften sich restlos und wurden in der Szene gerne als Notizheft genutzt.[4] Klaubert selbst hatte nie einen Berührungspunkt mit der Schwäbischen Kleinstadt und war sich deren Existenz nicht mal bewusst.

Der satirische Reiseführer „Gmünd von hinten“ steht exemplarisch für die Spannungsfelder innerhalb der frühen schwulen Verlagslandschaft der 1980er Jahre – zwischen politischem Aktivismus, kommerziellem Erfolg und regionaler Unsichtbarkeit. Während größere Verlage wie der Bruno Gmünder Verlag den schwulen Buchmarkt professionalisierten und damit kleinere Initiativen verdrängten, reagierten Verleger wie Jürgen Klaubert mit ironischen Gesten wie dem leeren Heftchen, das zugleich Kritik an der Kommerzialisierung und ein Spiegel gesellschaftlicher Leerstelle war. In Schwäbisch Gmünd wurde dieses vermeintlich lokale Produkt zu einem Symbol der Unsichtbarkeit, aber auch des kreativen Widerstands einer sich formierenden queeren Szene.

Die aktuelle Ausstellung im Museum im Prediger zeigt, wie bedeutungsvoll selbst unscheinbare Objekte für das kulturelle Gedächtnis und die Sichtbarkeit queerer Geschichte sein können.

[1] Bartholomae, Joachim: Chronik des schwulen Buchhandels und der Verlage 1975 bis 1998. In: Pretzel, Andreas; Weiß, Volker (Hg.): Zwischen Autonomie und Schwulenbewegung in den 1980er und 1990er Jahren. Edition Walsschlösschen, Hamburg 2013.

[2] Telefonisches Zeitzeugeninterview mit Jürgen Klaubert am 10.06.2025.

[3] Bartholomae, S. 12.

[4] Telefonisches Zeitzeugeninterview mit Jürgen Klaubert am 10.06.20

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