Joschi Moser – Meine Lebensgeschichte

Kindheit
Ich wurde als Kind einer ungarischen Flüchtlingsfamilie am 29. Mai 1958 in Schwäbisch Gmünd geboren. Ein Wunschkind war ich wohl sicher nicht, waren doch meine Eltern erst wenige Monate in Deutschland, um sich nach ihrer Flucht hier eine Existenz aufzubauen. Meine Eltern waren immer politisch sehr interessiert und engagiert. Meine Mutter wurde jedoch denunziert, weil sie meinen älteren Geschwistern Religionsunterricht durch eine Nonne ermöglichte. Dies war letztendlich der Grund, beim Volksaufstand und die dadurch offenen Grenzen Ungarn zu verlassen.

Verwandte väterlicherseits, die ebenfalls in Schwäbisch Gmünd lebten, rieten meiner Mutter zu einer Abtreibung. Ein kinderloser Onkel, der zusammen mit seiner Frau mein Taufpate wurde, schlug meinen Eltern vor, mich anzunehmen und gemeinsam mit meiner Tante in ein anderes Land zu gehen. Meine Eltern allerdings lehnten sämtliche Vorschläge rundweg ab und betrachteten die Schwangerschaft zwar als ungewollt, aber, wie meine Mutter später sagte als ein Gottesgeschenk. Meine Kindheit erlebte ich quasi in einer Großfamilie, da die Geschwister meines Vaters mit Ehepartnern und Kindern mit uns in einer großen Wohnung lebten. Als Kind durfte ich mit meiner Mutter aber nach Ungarn fahren, wo sie ihre persönliche Rehabilitation betrieb, war es doch ihre grundlegende Überzeugung, dass man wegen seines Glaubens keine Nachteile haben dürfe. Dies gelang ihr auch. Vielleicht wurde bei mir schon damals eine Eigenschaft angeregt, nämlich die, sich gegen Ungerechtigkeiten zur Wehr zu setzen, aber gleichzeitig immer offen zu sein und keine Geheimnisse zu haben. Ebenso war es mit der Religion. Meine Mutter, die in einem jüdischen Haushalt arbeitete, machte mich mit christlichen wie auch jüdischen Gebräuchen und Feiertagen bekannt, sodass sie mich mit beiden Religionen vertraut machte. Mein Vater arbeitete als Webermeister in einer ursprünglich jüdischen Seidenfabrik. Gleichzeitig wurde mir bereits als Kind klar gemacht, dass politische Extreme niemals gut für die Menschen sein können. Meine Eltern erlebten sowohl den Faschismus als auch den Kommunismus und lehnten beides vehement ab. Sie erzogen mich zu einem politisch denkenden Menschen, der die Demokratie und die politische Mitte zu schätzen weiß.

Erste Berührungen mit Homosexualität
Homosexuellen Männern wird oft die Frage gestellt, wann sie denn realisierten, dass sie schwul seien. Diese Frage lässt sich wohl nicht ganz leicht beantworten. Ich erinnere mich allerdings, dass ich schon als Kind von einem Onkel in Ungarn schwärmte. Er war groß, schlank, hatte pechschwarze Haare, einen Schnauzbart und trug meistens weiße Hemden mit aufgekrempelten Ärmeln. Manchmal stelle ich heute noch mit einem Schmunzeln fest, dass ich unbewusst beim Anblick eines Schnauzbartträgers im weißen Hemd zweimal hinschaue. Aber damals als Kind spielte das alles noch keine Rolle. Ich dürfte eine glückliche und behütete Kindheit genießen, wenn auch in großer Armut. Statt abends vor dem Fernseher zu sitzen, den wir uns nicht leisten konnten, saßen wir beim Mensch-ärgere-dich-nicht oder bei einem Kartenspiel zusammen am Tisch, während meine Geschwister im Radio einen Sender suchten, wo Peter Kraus oder Cornelia Froboess zu hören waren. Ich gebe zu, dass ich manchmal die anderen Kinder beneidete, die sich in der Schule über die TV-Abenteuer von Flipper, Fury oder Bonanza unterhielten. Leider konnte ich nie mitreden.

Im Unterricht kam mir mein Nebensitzer etwas näher, als er anfing mich mit seiner linken Hand an der Innenseite meiner Oberschenkel zu streicheln. Ich empfand das als sehr angenehm und erwiderte das Ganze bei ihm. Ein anderer drückte mir beim Turnunterricht immer wieder mal sein steifes Glied an meinen Körper. Beide sind übrigens heute glücklich mit Frauen verheiratet. Als ich die Schule wechselte, erlebte ich allerdings schlimme Szenen, weil ich aus finanziellen Gründen keine moderne Kleidung tragen konnte, sondern abgetragene Klamotten der Kinder von Bekannten meiner Eltern auftragen musste. Ebenso achteten mein Vater und mein älterer Bruder darauf, dass meine Haare immer sehr kurz waren und ich nicht wie ein Mädchen herumlaufen solle. Wurde ich damit zum Außenseiter?

Mit 16 Jahren hatte ich dann meine erste Freundin und im gleichen Alter den ersten sexuellen Kontakt mit einem Mann. Beides auszuprobieren erschien mir völlig normal. Allerdings beschränkten sich meine sexuellen Kontakte zu Frauen auf eher einmalige oder ganz kurze Kontakte, weil ich schon damals kein Interesse hatte, eine Familie zu gründen. Ich empfand die Kontakte mit Männern als unkomplizierter und viel mehr lustorientiert.  

Exemplarisch hierzu ist die Geschichte mit Ingeborg. Mit ihr absolvierte ich die Tanzschule. Ich stellte fest, dass Ingeborg mehr für mich empfand und besuchte sie und ihre Familie ab und zu am Sonntag zum Nachmittagskaffee. Auch ich fand sie nett und sehr anziehend. Allerdings zog ich vor dem Tanzstundenabschlussball die Notbremse, weil ich merkte, dass wir auf eine Beziehung hinsteuern. Ich wollte aber keinesfalls als schwuler Mann eine Frau womöglich heiraten und dann unglücklich machen, indem ich mit ihr eine Beziehung führe und mich gleichzeitig nach einem Mann sehne. Ich habe mich dann zurückgezogen, allerdings ohne den wahren Grund zu nennen. Ich habe viele Jahre später einmal Ingeborg am Rande einer Veranstaltung wieder gesehen und konnte ihrer Reaktion entnehmen, dass sie mich auch Dekaden später immer noch dafür hasst, dass ich sie sitzen ließ. Ob sie den wahren Grund ahnte?

Als Redakteur des „gegenDruck“ – der alternativen Stadtzeitung für Schwäbisch Gmünd

Versteckte Wahrheiten und falsche Ehen
Leider musste ich nämlich miterleben, wie viele Männer eine Scheinehe mit einer Frau eingehen oder ganz im Verborgenen leben. So war ich eine Zeitlang mit einem Offizier der Bundeswehr zusammen, für den es das Ende seiner Karriere bedeutet hätte, wenn damals seine sexuelle Identität publik geworden wäre. Als ich eine Zeitlang in Welzheim lebte und die Versteckspiele schwuler Männer wahrnahm, die bei ihren Kneipentouren gegenüber Frauen den absoluten Macho gaben, wurde mir immer mehr klar, dass ich so niemals leben möchte. Ich fand es einfach ekelerregend, mitzuerleben, wie schwule Männer an Frauen herumtätschelten und mir später erklärten, dass sie es furchtbar fanden

Viele erste Male: Gründung der HIS, die erste Liebe und erstes politisches Engagement
Zurück in Schwäbisch Gmünd lernte ich zwei junge Männer, Jimmy und Jürgen, kennen, ebenso wie ich Anfang 20, die beide eine Beziehung hatten. Wir waren damals der festen Überzeugung, dass wir uns von der Aufbruchstimmung unter Schwulen, die sich immer mehr für ihre Rechte einsetzten, anstecken lassen sollten und gründeten die Homosexuelle Initiative Schwäbisch Gmünd (HIS).

Die ersten Vorstände der HIS (v.l.n.r.): Jürgen Dannwolf, Roland (»Jimmy«) Lämmle und Joschi Moser. (©Joschi Moser)

Dort lernte ich dann auch gleich einen Mann kennen, dem ich wohl zu gefallen schien, was ich aber nicht sofort wahrnahm. Jürgen lag mir ständig in den Ohren mit den Worten, ich solle doch den Volker nehmen. Wir wären sicher ein sehr schönes Paar. Irgendwann gab ich nach und fragte Volker ganz unromantisch, ob wir es nicht miteinander versuchen sollten. Er willigte sofort ein. Meine Eltern nahmen diese Beziehung mit einem Schmunzeln zur Kenntnis, kannten sie ihn doch bereits aus der Bergwacht, wo er, genau wie mein Vater und mein Bruder, aktiv war. Dies war dann auch der Zeitpunkt, als meine Eltern mir sagten, egal was da kommen möge und wen ich liebe, ich würde immer ihr Kind bleiben. Dies war umso bemerkenswerter, als mein Vater eher streng und despotisch auftrat. Meine Geschwister hingegen zeigten sich sehr ablehnend. Mein Bruder meinte, eine gehörige Tracht Prügel würde dafür sorgen, dass ich wieder normal würde, während meine Schwester fabulierte, sie kenne einen Arzt, der Gehirnoperationen vornehme, die meine fehlgeleitete Sexualität heilen könnte, war sie doch – Psychologie für Laien – der Ansicht, dass ich mich vor Frauen ekeln würde, weil eine meiner Freundinnen ihren Hund immer mit sich im Bett schlafen ließ.

Im Jahre 1982 kam dann die berühmte politische Wende von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl. Ich erlebte mit, wie mein großes persönliches Vorbild, Hildegard Hamm-Brücher im Bundestag ihre wohl berühmteste Rede hielt. Für Volker und mich war es der Anstoß, aus Solidarität der SPD beizutreten. Volker war damals überzeugter SPD-Wähler, während ich selber mich wohl eher vom erwähnten Solidaritätsgedanken leiten ließ. Wir bemerkten sofort, dass wir als schwules Paar teilweise mit einer Mischung aus Ablehnung und Entsetzen betrachtet wurden. Andererseits war man bei den Sozialdemokraten froh, junge Leute in den Zwanzigern als Mitglieder aufnehmen zu können. Ich gründete umgehend eine Juso-Gruppe in Schwäbisch Gmünd, kurz danach einen Kreisverband und landete schließlich als Landesausschusspräsident auch im Landesvorstand. Ich wurde überallhin delegiert, merkte aber seitens der männlichen Genossen etwas, worüber ich heute noch lachen kann. Die Männer begrüßten sich bei jeder Sitzung stets alle mit Handschlag oder Schulterklopfen, wenn sie hingegen zu Volker und mir an den Tisch kamen, klopften sie lediglich mit den Fingerknöcheln zweimal kräftig auf die Tischplatte, es sei denn, es standen für Wahlen Listenaufstellungen an, dann bekamen wir auch mal einen Händedruck. Natürlich saßen bei uns am Tisch ausschließlich Frauen.

Ich gründete dann sehr schnell eine Schwuso-Gruppe in Schwäbisch Gmünd und kurz danach einen Landesverband, um so für die Rechte von Lesben und Schwulen eintreten zu können. Dass das nicht ganz einfach war, bekam ich schmerzhaft zu spüren, als ich auf einem Kreisparteitag den Antrag stellte, dafür einzutreten, den Paragrafen 175 in Deutschland abzuschaffen. Der SPD-Kreisvorsitzende sprach sogar davon, den Juso-Vorstand für diesen ungeheuerlichen Antrag aus dem Amt zu fegen, was mich dazu veranlasste, Briefe an Willy Brandt, Hans-Jochen Vogel und Herta Däubler-Gmelin zu schreiben. Die Antworten waren genauso wachsweich, wie die ganze Politik der SPD. Dies machte so sehr Furore, dass ich umgehend zum stellvertretenden Vorsitzenden der Jusos gewählt wurde. Trotzdem gab es diesbezüglich immer noch Sticheleien und Benachteiligungen in der Partei, die ich nicht einzeln aufführen will, was letzten Endes dazu führte, dass Volker und ich unsere Parteibücher entnervt zurückgaben.

Politisches Engagement und Demo-Teilnahme gegen die Pershing-Stationierung (©Joschi Moser)

Dass andere Parteien mit meiner sexuellen Identität wohl nicht so viele Probleme hatten, wie die Sozialdemokraten, zeigt die Tatsache, dass mein Austritt die Runde machte und ich abends von der Vorsitzenden der Grünen aufgefordert wurde, in ihre Partei zu kommen und mir anderntags der Vorsitzende der Gmünder FDP erklärte, dass ich auch bei den Freien Demokraten willkommen sei. Allerdings habe ich mich bis heute nicht dazu entschließen können, wieder in eine Partei einzutreten. Dies hat vielleicht auch damit zu tun, dass mein politisches Engagement so viel Zeit für Sitzungen, Parteitage und Reisen in Anspruch nahm, dass daran meine Beziehung zerbrach, ohne dass ich es realisiert hätte. Ich denke bis heute, dass politisches Engagement und Privatleben nicht kompatibel sind. Im Nachhinein betrachtet war ich wohl auch nie ein Sozialdemokrat mit Stallgeruch, ging ich doch oft entgegen meiner Überzeugungen aus Parteiräson einen Weg mit, den ich vielleicht gar nicht wollte.

Dass ein hohes Maß an politisches Engagement einem harmonischen Privatleben nicht förderlich ist, musste ich schmerzhaft erfahren. Meine glückliche Beziehung mit Volker wurde, ohne dass ich es realisiert hätte, zu einer Freundschaft. Nach sieben Jahren mit ihm war ich drei Jahre mit Wolfgang zusammen, bei dem ich den gleichen Fehler machte und mit meiner Abwesenheit auch diese Beziehung auf den Nullpunkt und damit zu einem Ende brachte. Im Laufe der nächsten Jahre verzichtete ich auf ein geregeltes Privatleben und stürzte mich in die politische Arbeit. Mir war wichtig, einen Beitrag dazu zu leisten, dass endlich dieser unsägliche Paragraf 175 in Deutschland aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wird. Leider musste ich einsehen, dass die SPD sich zwar mit Worten gerne solidarisch zeigt, aber konkrete Taten auf diese schönen Worte in der Regel nicht folgten. Es versetzte mir einen Stich ins Herz, als ausgerechnet unter der Regierung Kohl im Zuge einer Angleichung an DDR-Recht der Paragraf 175 ersatzlos gestrichen wurde.

Ein neues Kapitel im Kampf gegen AIDS: Gründung der Aidshilfe
Im Sommer 1995 entdeckte ich in der Zeitung eine Meldung, dass der für AIDS zuständige Arzt beim Gesundheitsamt vorhabe, in Schwäbisch Gmünd eine Aidshilfe zu gründen. Das interessierte mich! Ich ging also zur Gründungsversammlung im Landratsamt und wurde prompt in den neu gegründeten Vorstand der Aidshilfe Ostwürttemberg gewählt. Auch Volker war dabei und steht mir in der Aidshilfe bis heute als Vorstandsmitglied zur Seite. Übrigens haben wir den Namen bereits ein Jahr später in Aidshilfe Schwäbisch Gmünd geändert, weil anscheinend außerhalb Ostwürttembergs niemand mit dieser Bezeichnung etwas anfangen konnte. Die neue Aufgabe war genau, was ich wollte. Etwas Neues aufzubauen und zu formen. Einigen meiner Freunde hatte ich nämlich schon beim Sterben zusehen können, die sich mit diesem teuflischen Virus angesteckt hatten. Ebenso erlebte ich, wie manche von ihren Familien verstoßen wurden und nicht einmal zu Hause sterben durften, weil die Familie Angst hatte, dass die sexuelle Identität des Sohnes und auch der Grund für sein Ableben bekannt wurden.

Ich erlebte an mir selbst, dass ich immer kompromissloser und kämpferischer wurde, was das Eintreten für unsere Rechte anging. Der erste Infoladen der Aidshilfe konnte nach langer Suche in der Münstergasse eröffnet werden. Natürlich kam es gleich zu einem Skandal, als wir die Schaufenster für Kondome und einen Sekt mit der roten Solidaritätsschleife warben. Der ehemalige Münsterpfarrer mokierte sich auf übelste Weise in einem Leserbrief, worauf hin eine wahre Leserbriefschlacht erfolgte. Für mich war hilfreich, dass ich, wie erwähnt, nicht gewillt war, auch nur den geringsten Kompromiss einzugehen. Die Aidshilfe wurde verdächtigt, in ihren Räumlichkeiten Sexparties zu geben und Prostitution und Vergewaltigung zu fördern. Nur durch gute und harte Arbeit konnte dem entgegengewirkt werden. Und das tat ich.

Aber es gab noch etwas anderes: Drei Monate nach der Gründung der Aidshilfe lernte ich einen Mann kennen, nämlich Michael, der später mein Ehemann werden sollte. Den gleichen Fehler, der zur Beendigung meiner beiden vorherigen Beziehungen geführt hatte, wollte ich jetzt allerdings nicht mehr machen. Seit wir uns kennen, gab es keinen einzigen Tag, an welchem ich nicht mit Michael gesprochen hätte. Wenn wir nicht zusammen waren, dann zumindest am Telefon.

Die Aidshilfe eröffnete mir auch neue Perspektiven. Neben der Menschenrechtspolitik für Schwule lernte ich die Probleme drogenabhängiger Menschen kennen, ebenso die Arbeit mit Strafgefangenen, Migranten und Prostituierten. Präventionsveranstaltungen in Schulen ließen in mir Gefühle der Hochachtung für Lehrerinnen und Lehrer hochkommen, war ich doch nach solchen Unterrichtseinheiten ziemlich geschafft. Gleichzeitig nahm ich wahr, dass auch unter jungen Menschen Vorurteile gegenüber queeren Personen vorhanden sind, wenn nämlich unsere Vorträge auch Homosexualität streiften und ich sehen musste, wie einige der jungen Männer zu grinsen anfingen.

Zwischen Aufklärung und verborgenen Sexualitäten
Der Umzug in den zweiten Infoladen in der Bocksgasse brachte eine vergrößerte Fläche, womit Besuche von Schulklassen in unseren Räumlichkeiten möglich wurden. Mehrere Selbsthilfegruppen wurden ins Leben gerufen, wobei mich die Gruppe der schwulen Väter wieder in meiner Einstellung bestätigte, dass es richtig war, keine feste Beziehung mit einer Frau einzugehen. Die Verzweiflung und das Versteckspiel mancher Teilnehmer führten oft zu Depressionen, was auch in Suizide mündete. Stadtbekannte Geschäftsleute und Honoratioren versteckten sich hinter einer Fassade aus heiler Familie mit Ehefrau, Kindern und Enkeln. Um ihre sexuelle Identität ausleben zu können, suchten sie öffentliche Toiletten auf, Parks oder kleine Seen, an denen es inoffiziell FKK gab. Bei Präventionsaktionen traf ich bei dieser Gelegenheit auf Männer, die mich viele Jahre vorher verspotteten oder beleidigten; mir ging öfters der Gedanke durch den Kopf, welch jämmerlichen Charakter jemand mit sich herumtragen muss, der so handelt, um so wahrscheinlich von seiner eigenen Homosexualität abzulenken.

Das Team der AIDS-Hilfe Schwäbisch Gmünd (Bildquelle: AIDS-Hilfe)

Nach zehn Jahren bezogen wir im Traubengässle unseren dritten Infoladen und arbeiteten von dort aus. Neu waren Testangebote im Checkpoint, die auf immer größeres Interesse stießen. Inzwischen waren wir etabliert. Volker wurde von der Stadt Schwäbisch Gmünd mit dem Courage-Preis ausgezeichnet für sein Engagement für schwule Rechte. Ich selbst erhielt das Bundesverdienstkreuz am Bande.

Dass unsere Stadt Schwäbisch Gmünd inzwischen einen offen schwulen Oberbürgermeister wählte, mag sicher zu einer liberalen Atmosphäre beigetragen haben. Der Oberbürgermeister und ich besuchten einige Jahre lang die gleiche Schulklasse, was dazu führte, dass ich ihn, wie schon fünf Jahre zuvor für den CDU-Kandidaten Klaus Rückert im Bekanntenkreis bewarb. Inzwischen bin ich der festen Ansicht, dass es die CDU schwulen Parteimitgliedern leichter macht als die SPD.

Nachdem nun auch der dritte Infoladen aus allen Nähten platzte, wurde es Zeit für eine erhebliche Vergrößerung. Es war schon sagenhaftes Glück, dass ein in der Altstadt neu gebautes Haus, in welchem ein Steuerberater seine Kanzlei betrieb, nach dessen Ruhestand zu vermieten war. Dieses Haus hatte ich immer wieder voller Bewunderung betrachtet, entsprach es doch ganz genau meinem Geschmack, nämlich schlicht mit bodentiefen Fenstern und einem kleinen Garten rundum. Dies sollte das Zentrum für sexuelle Gesundheit werden. Auf drei Stockwerken gibt es nun die Aidshilfe, einen Checkpoint sowie die Räume für das Projekt rainbow-refugees. Letzteres ist mein besonderes Herzensprojekt.

Rainbow-Refugees: Ein sicheres Zuhause für queere Menschen auf der Flucht

Irgendwann kam mir der Gedanke, dass sich angesichts der Flüchtlingswelle anscheinend niemand um LGBT-Geflüchtete sowie Migranten mit einer HIV-Infektion kümmert. Mit unserem damaligen Landrat und unserem Oberbürgermeister konnte ich meine Idee verwirklichen, eine geschützte Unterkunft insbesondere für schwule geflüchtete Männer zu gründen. Der erste kam aus Indien, der zweite aus Tschetschenien, der dritte aus Guinea und so weiter. Es wurde im wahrsten Sinne des Wortes eine bunte Gruppe. Um gerade diesen besonders gefährdeten Menschen einen sicheren Aufenthalt und eine ebensolche Zukunft aufbauen zu helfen, sorgte ich dafür, dass unsere Schützlinge zusätzlich zu ihren Integrationskursen Nachhilfestunden durch uns bekamen. Ebenso erhielten alle zu einer Grundausstattung für ihre Zimmer noch weitere Materialien, womit sie besser in ihrer Unterkunft lernen konnten.

Heute blicke ich zurück mit einem Gefühl großer Zufriedenheit, hatte ich doch das Glück, viele interessante Menschen kennenzulernen. Eigentlich müsste ich Pech im Spiel haben, hatte ich doch Glück in der Liebe. Meinen Ehemann Michael habe ich am 4. September 2021, am 100. Geburtstag meiner Mutter, geheiratet. Auf die Frage, weshalb wir nicht schon vorher eine eingetragene Partnerschaft eingingen, antwortete ich immer, dass eine Ehe zweiter Klasse für mich nie in Frage gekommen wäre. Eine Heirat war für mich also erst nach Einführung der Ehe für alle denkbar. Habe ich damit etwa das oben beschriebene Gerechtigkeitsempfinden meiner Mutter geerbt?

Joschi und sein Ehemann Michael (©Joschi Moser)
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