Julius (Uly) Jetter:
Ein Leben zwischen Kriegsversehrtheit, queerer Identität und gesellschaftlicher Verfolgung
Julius (Uly) Jetter tauchte in den Recherchen der queeren Geschichtswerkstatt „Einhorn sucht Regenbogen“ bereits mehrmals auf: als Mitglied des „Kreises der Freunde“ und als Person, die seine Gefühlswelt in literarischen Texten zum Ausdruck brachte („Julius Jetter – Seine Seele in Worte gekleidet“). Sein Lebensweg war bisher unbekannt. Neueste Forschungsergebnisse liefern nun weitere Erkenntnisse zu seiner Biografie. [1]
Das Leben von Julius (Uly) Jetter spiegelt exemplarisch die Tragödien einer ganzen Generation wider: geprägt von Krieg, gesellschaftlicher Ausgrenzung und staatlicher Verfolgung. Geboren am 4. Februar 1898 in Schwäbisch Gmünd[2], verkörpert seine Biografie die Brüche und Widersprüche einer Zeit, in der individuelle Lebensträume an den harten Realitäten zerschellten.
Jugend und Kriegserfahrung
Julius Jetter wuchs im Mühlbergle 12 in Schwäbisch Gmünd auf und begann 1912 im Alter von 14 Jahren eine Ausbildung zum Metalldrücker bei der Firma Binder. Doch der Erste Weltkrieg durchkreuzte seine beruflichen Pläne. Zunächst als Munitionsarbeiter in Bad Cannstatt eingesetzt, wurde er schließlich im Frühjahr 1918 zur Armee eingezogen. Nach einer kurzen Grundausbildung kam er als Teil des Infanterie-Regiments 476 an die Westfront. Nur 21 Tage vor dem Waffenstillstand von Compiègne, am 22. Oktober 1918, wurde er in den Argonnen schwer verwundet. Die Folgen waren verheerend: Amputation des rechten Beins oberhalb des Knies und Versteifung des linken Knies. Mit gerade einmal 20 Jahren war sein Leben grundlegend verändert. Aus dem jungen Handwerker war ein Kriegsversehrter geworden.[3]
Neuanfang und literarische Ambitionen
Nach dem Krieg kehrte Jetter nach Schwäbisch Gmünd zurück und musste sich beruflich völlig neu orientieren. Er besuchte die Handelsschule und arbeitete später in verschiedenen Bereichen – als Büroangestellter, Reisender, Hilfsarbeiter und Kellner. Trotz seiner körperlichen Einschränkungen entwickelte er eine bemerkenswerte literarische Begabung. Seine Kurzgeschichten waren mehr als nur kreative Ausdrucksformen; sie wurden zu bedeutsamen Selbstzeugnissen, die tiefe Einblicke in seine Gefühlswelt gewährten.[4]

Queere Identität und der „Kreis der Freunde“
In den 1920er Jahren begann Jetter, sich intensiver mit seiner Homosexualität auseinanderzusetzen. Er wurde Mitglied der „Gemeinschaft der Eigenen“ (GdE) von Adolf Brand, einer Organisation, die sich für homosexuelle Rechte und Selbstakzeptanz einsetzte. Bereits 1920 veröffentlichte er zwei Erzählungen – „Adrast“ und „Fedja“ – in der Zeitschrift „Der Eigene“, einer für die Homosexuellenbewegung des frühen 20. Jahrhunderts zentralen Publikation.[5]
Im lokalen „Kreis der Freunde“ in Schwäbisch Gmünd, einem Netzwerk homosexueller Männer in Schwäbisch Gmünd, deren Existenz für den Zeitraum 1924/1925 nachweisbar ist, nahm Jetter eine Schlüsselrolle ein. Als ältestes Mitglied der Gruppe und durch seine Verbindungen zur überregionalen Emanzipationsbewegung wurde er zu einer Art Mentor und Informationsvermittler. Seine Wohnung am Mühlbergle 12 entwickelte sich zu einem sicheren Treffpunkt für Gleichgesinnte. Vermutlich stammten die im Kreis verwendeten Codierungen und die verschlüsselte Einladungsformel „Suchen Sie Anschluss an Gleichgesinnte der Art Platos“ von ihm.[6]
Verfolgung und Kriminalisierung
Die 1930er und 1940er Jahre brachten für Jetter zunehmende Schwierigkeiten. Er geriet mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt – sowohl wegen Betrugs- und Unterschlagungsdelikten als auch aufgrund dreier Verstöße gegen den berüchtigten § 175 in den Jahren 1937, 1939 und 1941. Dieser Paragraf kriminalisierte homosexuelle Handlungen zwischen Männern.[5]
1937 wurde er in Rottweil, wo er als Kellner im „Stadtgarten“ arbeitete, wegen Verstoßes gegen § 175 zu einem Jahr und sechs Monaten Haft verurteilt. 1939 folgte eine weitere Verurteilung zu zwei Jahren Gefängnis wegen „Unzucht“, die er in Mannheim verbüßte. Nach seiner Entlassung im September 1941 wurde er bereits im Dezember desselben Jahres erneut verhaftet.[6]

Verzweiflung und Selbstaufgabe
Die wiederholten Verhaftungen und gesellschaftliche Stigmatisierung trieben Jetter in tiefe Verzweiflung. In einem erschütternden Zeugnis seiner Hoffnungslosigkeit bat er die Behörden um seine eigene Kastration:
»Ich bereue meine Tat und bin tief unglücklich darüber. Ich möchte selbst darum bitten, dass ein operativer Eingriff bei mir vorgenommen wird, der die Geschlechtslust unterbindet, d.h. ich wünsche meine Entmannung. Ich glaube, dass nur ein solcher Eingriff mich von meiner anormalen geschlechtlichen Veranlagung abbringt.«[9]
Sein Antrag wurde abgelehnt – ironischerweise mit der Begründung, dass bei Männern seines Alters die Libido ohnehin schwinde.[10] Stattdessen stufte ihn die Kriminalpolizei (1942) als „Gewohnheitsverbrecher“ ein und verurteilte ihn zu vier Jahren Zuchthaus sowie fünf Jahren Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte. Er kam ins Zuchthaus Waldheim bei Chemnitz.
Kriegsende und Tod
Am 28. April 1945 wurde Jetter „kriegsbedingt“ aus dem Zuchthaus entlassen und lebte fortan bei seiner Schwester in Weil am Rhein.[11] Da er seine Gesamtstrafe nicht vollständig verbüßt hatte, wurde die Staatsanwaltschaft Freiburg erneut auf ihn aufmerksam. Hintergrund war, dass der Unrechtsparagraf 175 auch im Nachkriegsdeutschland bestehen blieb, sodass er weiterhin als rechtskräftig verurteilter „Verbrecher“ galt. Seine Reststrafe musste er aufgrund seines vorzeitigen Todes am 17. Mai 1946[12] nicht mehr antreten.
[1] Zur Lebensbiografie von Julius Jetter: Staatsarchiv Sigmaringen (StAS), Wue 29 T1_76, Wue 29 T2_370, Wue 29 T2_645, Wue T4_4303.
[2] Meldekarten Julius Jetter in: StadtA GD, Bestand A12a.01 und A12a.02.
[3] Lebenslauf Julius Jetter, Wue 29 T 4_4303, Image 11-12.
[4] Vgl.: Kolb, Arnd: Julius Jetter – Seine Seele in Worte gekleidet, in: Geschichtswerkstatt „Einhorn sucht Regenbogen“, https://www.einhorn-sucht-regenbogen.de/18-muehlbergle/, (Abruf: 19.06.2025)
[5] Siehe: Brandt, Adolf: Der Eigene, Ein Blatt für männliche Kultur, Berlin 1920, Bd. 8, S. 115-117, aus; Digitale Sammlung der Humboldt-Universität zu Berlin, https://www.digi-hub.de/viewer/image/1570623763616/97/LOG_0119/, (Abruf: 19.06.2025).
[6] Kolb, Arnd: „Suchen Sie Anschluss an Gleichgesinnte der Art Platos?“, Der »Kreis der Freunde«: ein schwules Netzwerk im Schwäbisch Gmünd der 1920er. In: Kolb, Arnd (u.a.): Aus dem Schatten in die Geschichte, Lebenswelten von LSBTI* in und um Schwäbisch Gmünd, Schwäbisch Gmünd 2025.
[7] Siehe dazu: Staatsarchiv Sigmaringen, Wue 29 T2_645.
[8] Anzeige 30.12.1941, ebd., Image 20.
[9] Aussage Jetter, Amtsgericht Tuttlingen, 12.01.1942, ebd., Image 16.
[10] Schreiben Staatliches Gesundheitsamt, 03.04.1942, ebd., Image 35.
[11] Schreiben Staatsanwaltschaft Freiburg, 24.06.1946, ebd., Image 122.
[12] Sterbeurkunde Julius Jetter, Staatsarchiv Sigmaringen, Wue 29 T2_645, Image 130.