Der Winterbacher Stausee – Gmünds „schwule Riviera“

In den 1980er-Jahren entwickelte sich der Lehenbach-Stausee südlich von Winterbach im Rems-Murr-Kreis zu einem kaum bekannten, aber bedeutsamen Treffpunkt schwuler Männer aus der Region Schwäbisch Gmünd. Was ursprünglich als Hochwasserschutzanlage geplant war, wurde bald zur überregional bekannten FKK-Oase – und zum Rückzugsort für Männer, die abseits der Stadtgesellschaft auf der Suche nach anonymen sexuellen Begegnungen waren.

In Jahrzehnten, in denen gleichgeschlechtliche Liebe in Deutschland unter Strafe stand oder gesellschaftlich geächtet wurde, mussten homosexuelle Männer ihre Bedürfnisse im Verborgenen ausleben. Öffentliche Parks oder Toiletten – sogenannte Klappen – boten nur spärlichen Schutz. (siehe dazu: Von Klappen und dem Cruisen – Treffpunkte schwuler Männer in Schwäbisch Gmünd) Mehr Anonymität versprach der rund 30 Kilometer von Schwäbisch Gmünd entfernte Lehenbach-Stausee bei Winterbach. Ein Zufluchtsort inmitten idyllischer Natur, der weit mehr als nur Erholung versprach.

Ein See, zwei Welten
Der künstlich angelegte Stausee wurde 1966 als Rückhaltebecken für Hochwasser geschaffen. In den 1980er-Jahren kam eine neue Nutzung hinzu: Der See entwickelte sich zu einem Zentrum der Freikörperkultur (FKK). Sogar überregionale Medien berichteten bald über die „Nackten am See“.[1] Die Gründe für die Popularität lagen auf der Hand: Abgeschieden zwischen Hügeln, Wäldern und Wiesen bot die Umgebung ideale Voraussetzungen für sonnenhungrige Anhänger der Nacktkultur. Zahlreiche Liegewiesen, versteckte Plätze im Wald und dichtes Buschwerk sorgten für die nötige Privatsphäre – für manche mehr, als auf den ersten Blick zu erkennen war.

Zwischen Nudist:innen bewegten sich Männer, die hier ihre gleichgeschlechtlichen Sehnsüchte stillen wollten – abgeschirmt vom Alltag, vor allem aber vor Entdeckung. Diese Form des Treffens, bekannt als Cruising, leitet sich vom englischen „to cruise“ ab – kreuzen, umherfahren, auf der Suche sein. Gemeint ist damit die gezielte, meist spontane Suche nach sexuellen Kontakten an öffentlichen Orten.[2]

Living in the Closet
Der Lehenbach-Stausee wurde in dieser Zeit zur „schwulen Riviera Gmünds“ – ein Ort, an dem zwischen Bäumen und Büschen mehr gespürt als gesprochen wurde. Nicht nur offen homosexuelle Männer nutzten den abgelegenen Ort. Insbesondere auch jene Schwäbisch Gmünder, die nach außen ein heterosexuelles Leben führten, fanden hier einen geschützten Raum. In der Öffentlichkeit traten sie als Familienväter, Ehemänner oder angesehene Bürger auf – im privaten Rückzug hingegen suchten sie Momente sexueller Selbstverwirklichung. Einer der damaligen Besucher erinnert sich:

»Man konnte hier für einen Augenblick alles hinter sich lassen: Ehefrau, Kinder, gesellschaftliche Verpflichtungen. Niemand kannte einen hier persönlich.«[3]

Für sie war das Cruising ein riskanter Balanceakt. Das Aufdecken ihrer wahren Identität hätte nicht nur berufliche Konsequenzen, sondern auch gesellschaftliche Ächtung zur Folge gehabt. Im Englischen bezeichnet man dieses Versteckspiel als „Living in the Closet“. Doch das Risiko blieb. Ein zufälliger Bekannter – und die sorgsam aufgebaute bürgerliche Fassade wäre zerstört gewesen.

Idyllisch und abgeschieden: Der Lehenbach-Stausee war in den 1980er-Jahren nicht nur FKK-Paradies, sondern auch Zufluchtsort für homosexuelle Männer aus Schwäbisch Gmünd.

Veränderte Situation
Lange Zeit duldete die Gemeinde Winterbach, was sich am Stausee abspielte. Doch mit dem wachsenden Bekanntheitsgrad des Sees mehrten sich Beschwerden der Anwohner:innen über Müll und zugeparkte Wege. [4]

Die rechtliche Zäsur kam 2006: Mit einer neuen Polizeiverordnung schob die Gemeinde dem bislang geduldeten Nacktbaden einen Riegel vor:

»Folgende Handlungen sind untersagt: Sich ohne ausreichende Kleidung, mindestens übliche Badekleidung, aufzuhalten (Nacktsonnenbaden), d. h. bei weiblichen Personen muss mindestens die Brust sowie der Schambereich durch einen Bikini, bei männlichen Personen muss mindestens der Schambereich durch eine Badehose bedeckt sein.«[5]

Damit verschwand auch der Hintergrund, der die diskreten Begegnungen so lange ermöglicht hatte. Die Rückzugsräume lösten sich auf, das Cruising verlor seine Anonymität und mit ihr seine Bedeutung.

Ein Relikt der Vergangenheit
Gleichzeitig wandelte sich die gesellschaftliche Realität. Die Abschaffung des § 175 StGB im Jahr 1994 und das Aufkommen digitaler Dating-Plattformen boten neuen Raum für queere Begegnungen. Für viele Männer aus Gmünd und Umgebung war die „schwule Riviera“ nun nicht mehr nötig.

[1] Siehe dazu: Schorndorfer Nachrichten, 19.08.2006 und Zeitzeugengespräch mit Anonymus 01.06.2025.

[2] Vgl. dazu: Von Klappen und dem Cruisen – Treffpunkte schwuler Männer in Schwäbisch Gmünd, in: https://www.einhorn-sucht-regenbogen.de/stadtgarten/ (Abruf: 16.06.2025).

[3] Zeitzeugengespräch mit Anonymus 01.06.2025.

[4] Siehe dazu: Schorndorfer Nachrichten, 19.05.2006 und 19.08.2006.

[5] https://www.winterbach.de/fileadmin/Dateien/Website/Dateien/Ortsrecht/1-1B_Polizeiverordnung_-_Naherholungsgebiet_Lehenbach.pdf, (Abruf: 16.06.2025).

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